Die Unbekannten: Roman (German Edition)
Bruder.
Wenn diejenigen, die Henry in seinem früheren Leben gekannt hatten, ihn jetzt sehen könnten, würden sie ihn nicht wiedererkennen. Allein schon die Kleidung würde dafür sorgen, dass sie durch ihn hindurchschauten, statt ihn anzusehen. Er konnte als ein Bauerntölpel aus einer Region durchgehen, über die man bestenfalls flog, als jemand, mit dem sie nichts gemein hatten, abgesehen davon, dass auch sie von einem Mann und einer Frau gezeugt worden waren.
In der Küche sammelte er die Kartoffeln, die Nora geschält hatte, aus dem Spülbecken und warf sie in den Abfalleimer.
Nachdem er den Inhalt der Speisekammer und des Kühlschranks einer genauen Prüfung unterzogen hatte, hatte Henry ausgezeichnete Würste gefunden, akzeptablen Käse, frische Eier, ein Glas rote Paprikaschoten und einen unseligen, aber essbaren Laib Weißbrot aus derart stark gebleichtem Mehl, dass er schimmerte, als sei er radioaktiv.
Er öffnete drei verschiedene Flaschen Cabernet Sauvignon, von denen er keinen kannte. Nur der dritte erwies sich als trinkbar. Wenn das der beste Wein war, den sich Jim und Nora leisten konnten, oder, noch schlimmer, wenn das ihrer Vorstellung von einem guten Wein entsprach – nun ja, dann waren sie, auch wenn es ein Jammer war, tot besser dran.
Henry plante, zwei Wochen damit zu verbringen, einen Dreijahresvorrat an Konservendosen und abgepackten Lebensmitteln anzulegen. Er hoffte, irgendwo in einem Radius von hundert Meilen würde es ein Feinkostgeschäft und eine Weinhandlung geben, wo man über eine Auswahl von Produkten verfügte, an die er schon seit langer Zeit gewöhnt war.
Sich für drei Jahre aus der Welt zurückzuziehen würde ein erträgliches Los sein, nachdem er sich mit Fasanenbrust in Dosen, Beluga-Kaviar, Palmherzen, Jahrgangs-Balsamico und Dutzenden anderer Köstlichkeiten eingedeckt hatte, die den Unterschied zwischen Leben und bloßem Dasein ausmachten.
Nach dem Abendessen spülte er das Geschirr. Mit diesem Ärgernis würde er sich abfinden müssen, bis er eine Frau fand, die er im Kartoffelkeller halten würde.
In seinem eleganten Großstadtdomizil am anderen Ende des Landes hatte er eine Haushälterin beschäftigt, aber sie hatte ein Gehalt und Prämien bezogen. Und sie war keine Frau von der Sorte gewesen, die Lust weckte.
Ein fensterloser Kartoffelkeller ermöglichte es ihm nicht nur, die Dienste einer Haushälterin in Anspruch zu nehmen, ohne Ausgaben zu haben, sondern versetzte ihn auch in die Lage, ohne den mühseligen Prozess der Verführung und ohne das ermüdende Bettgeflüster, das Frauen hinterher erwarteten, in den Genuss von Sex zu kommen. Bisher konnte er noch keinen anderen Vorteil sehen, den diese simple Bude gegenüber seinem Luxusdomizil in der Stadt in normalen Zeiten hatte; aber ob die Zeiten nun normal waren oder nicht – ein Kartoffelkeller mochte sich letzten Endes als eine Annehmlichkeit erweisen, die mindestens so begehrenswert war wie ein Heimkino und eine Sauna zusammen.
Normale Zeiten. Obwohl er vor dem Morgengrauen aufgestanden und stundenlang gefahren war, zum ersten und zum zweiten Mal in seinem Leben gemordet und obendrein sogar sein Abendessen selbst zubereitet hatte, war Henry Rouvroy nicht schläfrig, ja noch nicht einmal erschöpft. Da er sich über das Chaos im Klaren war, das in den bevorstehenden Monaten über die Nation hereinbrechen würde, war er motiviert, augenblicklich damit anzufangen, dieses Haus so herzurichten, dass es seinen Bedürfnissen in diesen anomalen Zeiten entsprach.
10
Nach einem kurzen Zögern öffnete Grady die Küchentür und folgte Merlin auf die Veranda. Verstreutes trockenes Birkenlaub raschelte unter seinen Füßen.
Vom Dach kamen keine weiteren Geräusche und der Mondschein offenbarte keine Besucher auf der Veranda oder auf dem Rasen davor.
Das höhere trockene Gras hinter dem Rasen schien sich jedoch zu biegen wie eine Woge phosphoreszierender Brandung, die sich an einem dunklen Ufer bricht.
Da sie von Bäumen abgeschirmt und auf die Entfernung geschluckt wurden, waren die Lichter der nächsten Nachbarn nicht zu sehen.
Die Werkstatt, in der er seine Möbel anfertigte, war an die Garage angebaut und zwölf Meter vom Haus entfernt. Die Fenster der Werkstatt leuchteten wie die Scheiben einer Laterne.
Grady hatte sein Tagwerk abgeschlossen, bevor er den Spaziergang mit Merlin unternommen hatte. Er zweifelte nicht daran, dass er die Werkstatt dunkel zurückgelassen hatte.
Etwas lockte den Wolfshund genau
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