Die Unbekannten: Roman (German Edition)
drei Stunden war sein Stapel von sechshundert auf elftausend angewachsen.
Die Belegschaft hatte begonnen, Interesse an ihm zu zeigen, aber keinen Argwohn. Sie hofften, ihn am Tisch halten zu können, bis er seine Gewinne wieder verspielte.
Er zerstreute jeden Verdacht, indem er gelegentlich schlecht spielte. Wenn der Croupier einen König zeigte und der Stapel voller Bildkarten war, teilte Lamar zwei Siebener, weil ihm »sein Gefühl das sagte«, und verlor. Seine kalkulierte, bewusst unberechenbare Spielweise ließ ihn wie einen gewöhnlichen Gast erscheinen, der eine Glückssträhne hat.
Lamar wusste immer noch nicht, warum er dort war, bis um Viertel vor sechs eine Barbedienung – ihr Namensschild wies sie als Teresa aus – fragte, ob er noch ein Light-Getränk wolle.
Sie war eine attraktive Brünette mit kleinen Sommersprossen und einem aufgesetzten Lächeln. Als er sie ansah, um zu bestätigen, dass er noch einen Softdrink wolle,
standen in ihren Augen unvergossene Tränen, die sie kaum zurückhalten konnte.
Der schwarze Croupier war schon mehrfach abgelöst worden. Jetzt gab ein Rotschopf namens Arlene die Karten. Lamar hatte ihr gute Trinkgelder zukommen lassen, und daher war das Verhältnis zwischen ihnen harmonisch.
Als Arlene die sechs Pakete gemischt hatte und den Schlitten wieder füllte, blickte Lamar hinter Teresa her und fragte: »Was hat sie durchgemacht?«
»Terri? Ihr Mann war bei den Marines. Er ist letztes Jahr im Krieg gestorben. Ein Kind, Marty, acht Jahre alt, ein Goldschatz. Sie liebt ihn über alles. Er hat das Down-Syndrom. Sie ist zäh, aber zäh genügt nicht immer.«
Lamar spielte drei weitere Runden und gewann zwei davon, bevor die Barkellnerin mit seinem Softdrink kam.
Von dem Stapel auf seinem Tisch gab er siebenhundert Dollar und das Kleingeld Arlene. Die übrigen Elftausend in Jetons schaufelte er mit beiden Händen vom Tisch und ließ sie auf Teresas Getränketablett fallen.
Die Kellnerin sagte verblüfft: »He, nein, das kann ich nicht annehmen.«
»Ich will nichts dafür«, beteuerte ihr Lamar, »und ich brauche es nicht.«
Er ließ sie erstaunt und stammelnd stehen und ging an den anderen Blackjack-Tischen vorbei zum Straßeneingang des Casinos.
Der Boss des Casinos holte Lamar ein und trat zwischen zwei Spieltische. Er war so sorgfältig frisiert, rasiert, manikürt und so gut gekleidet, dass er auch ein Model hätte sein können. »Mr. M., warten Sie«, sagte er und bezog
sich auf den Namen Mandelbrot, den Lamar benutzt hatte. »Mr. M., sind Sie sicher, dass Sie das tun wollen?«
»Ja. Ganz sicher. Gibt es damit ein Problem?«
»Sie haben nur alkoholfreie Getränke zu sich genommen. Ich sehe kein Problem.« Dennoch konnte er den Verdacht, hier sei etwas faul, nicht ganz abschütteln, und fügte daher hinzu: »Aber es ist ungewöhnlich.«
»Was, wenn ich Ihnen sagen würde, ich sei unheilbar an Krebs erkrankt, hätte noch vier Monate zu leben, bräuchte kein Geld und hätte niemanden, dem ich es hinterlassen kann?«
In der Fantasiewelt der Casinos war der Tod exakt die Wahrheit, die aggressiver als jede andere verdrängt wurde. In keinem Casino fand man eine Uhr, als spiele man Glücksspiele außerhalb der Zeit. Spieler baten hin und wieder Gott um Hilfe, aber mit dem Tod sprachen sie nie.
Der Boss des Casinos war so fassungslos, als könne das Wort mit dem großen K den Bann brechen, der jeden innerhalb dieser Wände gefangen hielt, als würde die bloße Erwähnung von Metastasen den Prunk und den Glanz in Schlamm und Asche verwandeln. Er rückte den Knoten seiner Krawatte gerade, obwohl er nicht schief gesessen hatte. »Das ist hart. Machen Sie es gut. Viel Glück, Mr. M.«
Lamar Woolsey hatte keinen Krebs. Er hatte auch nicht behauptet, er hätte Krebs. Aber sein »was, wenn« hatte als ausreichende Erinnerung an die Realität gedient, um den Boss des Casinos in Angst und Schrecken zu versetzen.
Draußen, in dem spitzwinkelig einfallenden goldenen und orangefarbenen Sonnenschein, schien die Welt in
Flammen aufzugehen. Hektarweise Neonreklamen hießen den anbrechenden Abend willkommen.
In dem dichten Gedränge von Touristen trugen viele Leute keine Sonnenbrillen mehr, doch in ihren Augen konnte man hinter Katarakten brillanter Farben nichts lesen.
8
Vor den Fenstern herrschte Dunkelheit und zu seinen Füßen lag Merlins enormer Körper, als Grady Adams am Küchentisch sein Abendessen einnahm. Der Hund hoffte auf ein oder zwei Bissen Huhn, bettelte aber
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