Die Unbekannten: Roman (German Edition)
Für einen Menschen gab es nur zwei Rollen: Beute oder Jäger. Herrschen oder beherrscht werden. Handeln oder Handlungen über sich ergehen lassen.
Irgendwo in der Nähe hatte ein Jäger sich vorgenommen zu verhindern, dass Henry sich auf diesem Grundstück die Zuflucht eines Überlebenskünstlers einrichtete. Der unbekannte Gegner konnte nur einen Beweggrund haben: das Anwesen an sich zu bringen, um den drohenden Sturm hier zu überstehen.
Wenn das der Fall war – und es musste der Fall sein –, dann konnte es nur jemand sein, der wusste, dass der Sturm bevorstand , jemand, der in Washington in denselben Kreisen verkehrte, in denen Henry früher verkehrt war. Er musste dahintergekommen sein, dass Henry dem Geschäftsbereich ein Vermögen gestohlen hatte, und er musste Henry unter Beobachtung gestellt haben, um herauszufinden, welche weiteren Absichten er hegen könnte.
Diese Kreise waren von Leuten verseucht, denen unbegrenzte Mittel für Nachforschungen und zum Aufspüren von Personen, die von Interesse waren, zur Verfügung
standen. Henry hatte große Sorgfalt darauf verwendet, seinen Diebstahl zu verbergen und seine Fährte zu verwischen, als er in den Westen gereist war, aber offenbar war er nicht vorsichtig genug gewesen.
Er glaubte keinen Moment lang, sein Bruder Jim könnte sich an ihn heranpirschen. Jim war tot. Mit drei Schüssen getötet. Der dritte Schuss ins Gesicht. Selbst wenn Jim überlebt hätte – was nicht sein konnte –, wäre er blind und hätte einen Hirnschaden.
Nachdem er die letzten Spiegelscherben aufgesammelt hatte, trug Henry den Müllsack in die Küche und packte ihn in den Abfalleimer. Er nahm die Schrotflinte mit.
An der Kellertür war die Stuhllehne weiterhin unter den Türknauf gezwängt.
Er presste ein Ohr an den Spalt zwischen der Tür und dem Rahmen, hielt den Atem an und lauschte. Kein Laut drang von unten herauf.
Vielleicht wären manche Leute abergläubisch genug gewesen, um sich zu fragen, ob Jim von den Toten zurückgekehrt sein mochte, um sich zu rächen. Henry glaubte nicht an ein Leben nach dem Tod, weder im spirituellen Sinne noch nach der Art von Zombie-Filmen.
Die verschwundenen Leichen, der blutige Handabdruck und der Blutschmierer auf der Tagesdecke des Betts waren nichts weiter als Theater. Jemand dort draußen besaß einen pubertären Humor. Er wollte Henry martern.
Wer auch immer dieser Hurensohn sein mochte, er war offenbar ein Sadist. Kein Wunder. Die meisten Menschen in Henrys Kreisen in Washington waren Sadisten. Bei einer bestimmten Art von Persönlichkeit waren Sadismus
und Machtgier als Charakterzüge unlösbar miteinander verflochten.
Henry legte die Schrotflinte auf den Esstisch. Im Stehen schenkte er sich ein weiteres Glas von dem Wein ein, mit dem er zum Abendessen notgedrungen vorliebgenommen hatte.
Vor einem Jahr hatte Henry eine sadistische Ader an sich bemerkt. Zum ersten Mal war sie ihm aufgefallen, während er auf dem Kochkanal eine halbe Stunde lang einer Köchin zugesehen und sich sechzehn gewalttätige und groteske Dinge ausgemalt hatte, die er gern mit ihr getan hätte. Am Ende der Sendung konnte er sich an kein einziges Gericht erinnern, das sie zubereitet hatte.
Dann hatte er auf den Heim- und Gartenkanal umgeschaltet und dort eine Sendung gefunden, die von einer goldigen Innenarchitektin moderiert wurde. Am Ende des Sendung war die Frau in Henrys lebhafter Fantasie nackt und gebrochen an einer Kalksteinsäule zusammengesackt, an die sie mit Stacheldraht gefesselt war.
Das ganze letzte Jahr über war keine Frau im Fernsehen sicher gewesen, wenn Henry nach der Fernbedienung griff. Gewisse Berühmtheiten regten ihn zu grausamen Fantasien von einer solchen Zügellosigkeit an, dass er sich den Fernseher mit dem größten Flachbildschirm auf dem Markt kaufte.
Jim und Nora hatten keinen Fernseher. In dieser finsteren Provinz gab es keine Kabelanbieter, und die beiden hatten sich geweigert, das Geld für Satellitenfernsehen lockerzumachen.
Wenn Henry Rouvroys Pläne aufgingen, würde er ohnehin
keine Zeit zum Fernsehen haben. Er hegte große Zweifel daran, dass er Starköchinnen finden würde, die er in dem Kartoffelkeller einsperren konnte, aber selbst im ländlichen Colorado gab es reichlich zartes Fleisch, das seinen Zwecken dienen würde.
Da er sich für einen Intellektuellen hielt, hatte Henry beachtlich viel Zeit darauf verwandt, über seine sadistischen Impulse nachzudenken. Ihm war klar, dass nicht die Kochshow sie
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