Die Unbekannten: Roman (German Edition)
borealis, ein Nordlicht in Farben, die wie Edelsteine leuchteten, eingefangen in tennisballgroßen, schwerelosen Kugeln. Ohne jeden ersichtlichen Zweck schwebten sie dort … Sie schienen sich so weit außerhalb von Gradys Erfahrungsbereich zu bewegen, so geheimnisvoll zu sein, sich jeglicher Erklärung so hartnäckig zu widersetzen und ihn mit ihrer Schönheit derart zu verwirren, dass er zusehends die Orientierung verlor, je länger er sie betrachtete.
Er begann sich leicht und eigentümlich schwerelos zu fühlen, als könne auch er plötzlich die Fesseln der Schwerkraft abwerfen und vom Boden abheben, um auf dieser Seite der Scheibe in der Dunkelheit zu schweben, wie die vier Kugeln im äußeren Dunkel schwebten.
Dann blinzelte erst eines der Paare, danach das andere, und das Blinzeln als Hinweis auf eine Funktion eröffnete Grady eine gänzlich neue Perspektive, die das Rätsel löste. Augen. Dunkelheit in der Mitte jeder Kugel, die weit geöffnete Iris. Unglaublich große, leuchtende Augen, die ihre Farbe veränderten.
Die Geschöpfe hatten sich auf die Fensterbank gezwängt. Eines hielt den Kopf gerade, das andere hatte ihn zur Seite geneigt: zwei Augen, die auf einer horizontalen Ebene lagen, zwei schräg dazu.
Eine Minute lang hatten die schillernden Kugeln Gradys Aufmerksamkeit gänzlich gefangen genommen und ihn fasziniert, wenn nicht sogar hypnotisiert. Jetzt war er in der Lage, das Fenster als Gesamtheit wahrzunehmen, alles, was es einrahmte. Er sah die bleichen Gestalten als vage Umrisse, eine Andeutung von Gesichtern, vielleicht auch eine Vorderpfote, die sich an den Rahmen klammerte.
Die beiden rückten von der Glasscheibe ab und ließen sich auf alle viere fallen.
Obwohl er sich darauf beschränken musste, ihnen hinter geschlossenen Fenstern nachzulaufen, erfüllte die Jagd Merlin mit Begeisterung. Jetzt drückte er seine Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten durch ein Knurren aus und verließ seinen Posten.
Grady drängte sich an dem Hund vorbei an die Fensterscheibe, die zum Teil noch vom Atem des Hundes beschlagen war.
Mit strahlenden Laternenaugen flohen die Tiere in die Nacht.
Merlin galoppierte aus der Bibliothek und raste in Richtung Küche.
Grady stand da, als hätte er eine Gehirnerschütterung. Er war derart geschockt, dass er sich nicht von der Stelle rühren konnte, aber nicht wegen eines körperlichen, sondern wegen eines intellektuellen Schlags. Nachdem er das
Paar von der Wiese deutlicher gesehen hatte, hätte er genauer wissen müssen, woran er war, stattdessen stand er vor einem noch größeren Rätsel.
Merlin bellte nur selten. Doch jetzt tat er es.
20
Henry Rouvroy sammelte Fragmente seines Gesichts vom Boden des Badezimmers auf und ließ die Scherben des Spiegels, den die Schrotflinte zerschmettert hatte, in einen robusten Plastikmüllsack fallen.
Wiederholt hielt er inne, um in den silbernen Splittern Spiegelbilder seines starren Blicks zu mustern, bevor er sie wegwarf. Er sah nichts in seinen Augen und schon gar kein Schuldbewusstsein. Schuld gab es nicht, außer in den Köpfen charakterschwacher Menschen, die an falsche Götter mit unterschiedlichen Befugnissen glaubten. Er sah dasselbe Nichts, das er in den Augen von Nora Carlyles Leichnam gesehen hatte, das universelle Nichts des menschlichen Blicks.
Die Augen waren eben nicht die Fenster der Seele, und hinter ihnen war nichts weiter zu sehen als tausend Gelüste, Bedürfnisse, Begierden und noch eines – Furcht. Henry kannte seine Gelüste und hatte es nicht nötig, sie in seinen Augen zu entdecken. Seine Gelüste und Begierden waren unersättlich, und er würde ihnen Nahrung geben – und zwar so, wie es noch kein Unersättlicher, der jemals geboren worden war, je getan hatte. Die erste Frau im Kartoffelkeller würde nicht die letzte sein, und wenn er lange genug lebte, würde die Farm seines Bruders zu einem zwei Hektar großen Friedhof ohne Grabsteine werden.
Henry forderte sich selbst dazu heraus, sich die Furcht in seinen Augen einzugestehen, und er sah sie deutlich. Er fürchtete sich vor keiner Form von Autorität. Er fürchtete nur andere von seiner Sorte, im Werden befindliche Monster oder Monster, die bereits vollständig ausgereift waren. Er wusste, dass sich Unmengen von ihnen verstohlen herumtrieben. Und er wusste, wozu sie fähig waren, weil er wusste, wozu er selbst fähig war: zu allem.
Er sah nichts Höheres an dem Tier Mensch, nichts Erhabenes oder Würdevolles oder Außergewöhnliches.
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