Die Unbekannten: Roman (German Edition)
die Autofahrer anzuschnorren, die hier Rast machten, um Zwiesprache mit der Natur zu halten. Wenn er an Tagen, an denen er zu wüst aussah, zu betteln versuchte, stiegen sie nicht aus ihren Fahrzeugen.
Der Name Bigger hatte in seiner Jugend besser zu ihm gepasst. Mit achtundvierzig Jahren und einen halben Zentner leichter als in seiner Glanzzeit war er hager, obwohl er mit seinen einssechsundneunzig immer noch die meisten Menschen überragte. Er war grobknochig, mit Handgelenken, so dick wie die Griffe von Äxten und Vorschlaghämmern als Händen; damit konnte er jeden niederschlagen, doch der Zustand seines Gesichts sorgte dafür, dass ihn nie jemand provozierte.
Dreimal im Lauf der Jahre, wenn der Selbsthass so übermächtig wurde, dass er ihn herauslassen musste, weil er ihn sonst vergiftet hätte, hieb er mit seinen gewaltigen Fäusten auf sein eigenes Gesicht ein, bis der Schmerz so heftig war, wie er es verdient hatte. Jedes Mal fand ihn jemand, und er wurde ins Krankenhaus gebracht.
Er akzeptierte die medizinische Grundversorgung, lehnte jedoch die wiederherstellende Chirurgie abgesehen von den nötigsten Zahnbehandlungen ab. Er wollte so aussehen, wie er war: gebrochen, ein unbrauchbares Wrack. Er wollte, dass die Leute ihn so wahrnahmen, wie er wirklich war, und er wollte ihr Mitleid und ihre Abscheu sehen.
Die Erniedrigung sorgte dafür, dass sich seine Verbitterung gegen ihn selbst richtete. Er fürchtete nur, eines Tages könnte seine Bitterkeit in Feindseligkeit gegen andere umschlagen, und er würde sie ausleben. Ihm graute davor, welche Gewalttaten er begehen und was für ein Scheusal er werden könnte.
Beim Betteln hielt er ein Schild hoch, das ihn als Veteran auswies, den Überlebenden eines Bombenanschlags
in einem der Konflikte im Mittleren Osten, doch er war nur ein Veteran des Krieges, der in seinem Inneren tobte.
An jenem Tag war Tom rasiert, hatte sein Haar im Meer frisch gewaschen, trug eine zerknitterte Khakihose und ein Hawaiihemd mit Papageienmuster und schien vorzeigbar genug, um innerhalb von drei Stunden rund dreißig Dollar einzunehmen.
Er war allein auf dem Parkplatz, als die Möwen im Sturzflug herabstießen, ihm schwindlig wurde und er sich in die Tonne erbrach.
Da sein Magen jetzt entleert war, zog er eine Halbliterflasche Tequila aus einer Hosentasche, um den widerlichen Geschmack, den er im Mund hatte, wegzuspülen. Als er die Flasche an die Lippen setzte, ereignete sich der Vorfall.
Als Tom Bigger sich endlich von der Stelle rühren konnte, lief er vom Parkplatz aus nach Norden, bis die senkrecht abfallende Klippe einem Steilhang aus Sandstein wich. Eilig schlurfte er den Hang zur Küste hinunter. Erst am Strand fiel ihm auf, dass er weder einen Schluck von dem Tequila getrunken noch die Flasche festgehalten hatte.
Vor ein paar Monaten hatte er einen Unterschlupf in einer drei Meter tiefen Höhle am Fuße der Klippe bezogen, direkt unter dem Aussichtspunkt. Außer seinem zusammengerollten Bettzeug und seiner kärglichen Habe bewahrte er dort einen Vorrat an Tequila und eine Dose Joints von hervorragender Qualität auf.
In den letzten Jahren trank er mehr, als er rauchte. Jetzt wollte er beides bis zur Besinnungslosigkeit tun.
Aber zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, verweigerte er sich das, wonach er doch lechzte. Stattdessen watete er vollständig bekleidet ins Meer und setzte sich da hin, wo sich die schwache Brandung sanft an seiner Brust brach.
An diesem Abschnitt der staatseigenen Küste war der Strand mit Rücksicht auf bestimmte vom Aussterben bedrohte Arten dauerhaft für Schwimmer, Surfer, Camper und Fischer gesperrt. Kalifornien war jedoch so bankrott, dass es nicht die finanziellen Mittel aufbrachte, um mehr als den Steuergesetzen Geltung zu verschaffen, und daher brauchte sich Tom keine Sorgen zu machen, irgendeine Form von Küstenpatrouille könnte ihn schikanieren.
Der Stadtrand lag fast eine Meile weiter südlich, einst eine vielversprechende Gemeinde, aber jetzt nur noch einer von vielen Orten, an denen die Leute auf das Ende von etwas und den Beginn von etwas Schlimmerem warteten. An den meisten Tagen lief er in die Stadt, aber von dort kam nie jemand zu Fuß so weit nach Norden.
Im Lauf der Jahre hatte er viele Unterkünfte gehabt: Zelte, überdachte Abzugsschächte, schrottreife Wagen, leerstehende Gebäude. Er hatte gehofft, die Höhle in der Sandsteinklippe würde sein letztes Zuhause sein.
Vor sechs Monaten hatte er zweimal einen
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