Die Unermesslichkeit
sich die nächste Seite vor, und Gary hämmerte wieder, verbissen, das Gesicht alt, so viele Falten. Verloren in seiner Arbeit, der Blick leer. Und Irene konnte es ihm nicht verdenken. Sie verstand seinen Wunsch nach Vergessen. Momentan allerdings wurde sie an sich erinnert. Jeder Hammerschlag ein Stich hinters rechte Auge, eine wellige rote Schliere, die aufwärts schoss wie in einem Comic, und sie dachte, sie würde ohnmächtig werden, was aber nicht passierte. Sie konnte durchhalten, es aussitzen. Es würde nicht ewig dauern. Sie nagelten alle vier Seiten fest und traten dann einen Schritt zurück, um ihr Werk zu bewundern.
Nicht schlecht, sagte Gary. Und es stimmte. Die Lücken hatten sich geschlossen. Höchstens mal ein Zentimeter, nichts, was Kitt oder Mörtel nicht beheben konnten.
Sie schleppten eine dritte Lage herbei, nasses Holz, vier Stämme, und Gary schlug wieder Nägel ein. Irene stand dahinter und dachte, dass es schnell gehen könnte. Vielleicht brauchte es gar nicht so lange, eine Hütte zu bauen.
Wie machen wir denn die Tür?, fragte sie Gary. Und die Fenster.
Gary hörte auf zu hämmern und richtete sich auf. Schwer atmend. Ach ja, sagte er. Wir brauchen eine Tür. Und mindestens ein Fenster, um auf den See zu gucken.
Genau, sagte Irene.
Gary setzte sich rittlings auf die Blockwand, ein Knie auf dem Podest. Ich glaube, wir schneiden sie einfach aus. Wenn wir an der oberen Kante sind, wo ein Fenster oder eine Tür hin sollen, säge ich die Stämme ab.
Okay, sagte Irene. Und wir kaufen ein richtiges Glasfenster mit Rahmen und eine Tür?
Klar, die kaufen wir erst, und dann säge ich die Lücken aus.
Gary hämmerte weiter, und Irene legte sich auf ein Farnbett. Schlaf eine schwere Hülle, die nie richtig zuging, Schmerz überall in den Ritzen. Rhoda würde heute Abend wieder Schmerzmittel mitbringen. Das hatte sie versprochen. Irene hatte noch eine Tablette übrig und versuchte, so lange wie möglich durchzuhalten. Scharfer Geruch nach Farn und Erde, dunkel und würzig, darauf konzentrierte sie sich, versuchte, Schlaf an den Geruch zu hängen, aber sie kam nicht davon, konnte sich nicht lange genug ablenken, um zu vergessen. Und es war unerträglich, in einer Position zu verharren, zu spüren, wie sich der Druck aufbaute.
Was machst du da?, fragte Gary.
Irene setzte sich auf. Ich muss das loswerden, sagte sie. Diesen Schmerz. Ich verzweifle allmählich.
Das müsste doch jetzt mal vorbei sein. Der Arzt hat gesagt, ein paar Tage, höchstens eine Woche, und dann bist du drüber weg.
Ich konnte letzte Nacht nicht schlafen. Nicht mal eine Minute. Nicht mal mit Tramadol.
Was?
Ja, bis das weggeht, schlafe ich vermutlich gar nicht mehr.
Das verstehe ich nicht.
Tja. Ist aber so.
Gary ging zu ihr, kniete sich neben sie und hielt mit beiden Händen ihren Kopf fest. Du weinst ja, sagte er.
Nein. Bloß Tränen. Das passiert jetzt dauernd. Macht mein Körper automatisch.
Wir müssen rausfinden, was dir fehlt, sagte er. Irgendwas stimmt doch da nicht.
Halleluja.
Er zog die Hände zurück. Sei nicht so.
Na ja, sagte sie. Wird langsam Zeit, dass du mir glaubst.
Entschuldige. Wir finden einen anderen Arzt. Einen Spezialisten. Vielleicht fahren wir morgen mal nach Anchorage.
Sie schlossen ihre Tagesarbeit ab, Gary endlich aufmerksam, half ihr über den Bug ins Boot, behielt sie auf dem Rückweg im Auge. Sie versuchte zu lächeln. Danke, sagte sie im Motorenlärm, aber er hörte sie nicht, und sie konnte sich zu keinem zweiten Versuch aufraffen.
Zu Hause ruhte sie sich im Schlafzimmer aus, während er Essen machte. Nahm ihre letzte Tramadol, wartete auf Rhoda. Und schlief beinahe ein. Sie sank tiefer und tiefer, kam aber nicht ganz von der Oberfläche weg. Dann hörte sie Rhoda vorfahren. Die Haustür, Gary im Gespräch. Die Schlafzimmertür, und Rhoda war bei ihr.
Wir bringen dich nach Anchorage, sagte Rhoda leise. Jim telefoniert gerade, um jemanden zu finden, und er hat dir Codein verschrieben, damit ich keine Tramadol mehr klauen muss.
Irene hatte Mühe, zum Sprechen aus sich hervorzukommen. Tiefer unten, als sie angenommen hatte. Danke, sagte sie schließlich. Jim ist ein feiner Kerl.
Ja, sagte Rhoda. Das ist er.
Rhoda half ihr, sich aufzurichten, und nahm ihren Arm, um sie beim Aufstehen zu stützen.
So schlimm ist es noch nicht, sagte Irene. Gehen kann ich.
Okay.
Das Problem ist der Kopf, nicht die Beine. Ich bin nicht im Pflegeheim. Ich bin fünfundfünfzig.
Okay, Mom, sagte
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