Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
Vom Netzwerk:
Nachnamen, Knudsen und so was. Praktisch keine aleutischen Nachnamen. Ich habe mal einen Sommer in so einem Ort gearbeitet, als Tischler, und das sind echte Fischkiller. Erbe von beiden Seiten. Und sie haben ihre eigenen Gesetze.
    Was soll das heißen?, fragte Carl. Das Boot erschien ihm wahnsinnig langsam. Schlingerte über die Wellen, kam nirgendwo schnell vorbei. In der Zwischenzeit holten die Russen auf, das wusste er. Er verstand den Reiz dieser schnellen Aluminiumboote mit ihren Benzinmotoren.
    Da war mal ein Junge, sagte Mark, ein Teenager, den irgendwas geärgert hatte – und in so einem Ort kann man sich bestimmt über vieles ärgern, Inzest und so, wer weiß, was da abläuft –, also hat er seine Tante beklaut, nichts Großes, aber dann klaut er jemandem den Geländewagen, fährt ihn an den Strand und schließlich rein ins Wasser. Hat ihn unter den Wasserspiegel gesetzt. Aber natürlich hat sich keiner was vormachen lassen. Sie haben ihn mitten ins Dorf geschleift und einen Fischsack übergestreift, dann sind alle Männer mitFischtötern auf ihn los. Sein eigener Vater hat ihn mitten auf den Kopf gehauen. Und ich steh da und frag mich, ob ich da gerade einen Mord beobachte, und ich glaube, ja. Ich habe nie nachgefragt. Ich war bloß da, um beim Hausbau zu helfen. Das war’s.
    Scheiße, sagte Carl.
    Ich gebe Dora Bescheid, sagte Mark. Sie kommt hoch und übernimmt hier. Du hältst dich einfach zurück, und wenn wir Fisch fangen, kannst du mir wieder beim Einsammeln helfen.

D as Wasser nicht mehr türkis. Heute ein dunkles, dunkles Blau, mit Schwärze darin, einer Klarheit, kein treibender Gletscherschlick. Irene verstand nicht, wie es sich innerhalb eines Tages so vollkommen verändern konnte. Ein anderer See jetzt. Noch eine Metapher für das Ich, jede neue Version stellte alle vorangegangenen in Frage. Heute war sie nicht mehr wie vor zwei Wochen, vor den Kopfschmerzen, neulich nicht wie vor zwei Monaten, vor dem Ruhestand, im Klassenzimmer mit den Kindern. Und damals war sie nicht wie zuvor, als ihre eigenen Kinder noch zu Hause wohnten, bevor sie aus ihrem täglichen Leben verschwanden, und damals war sie nicht wie zu der Zeit, bevor sie und Gary hierher kamen, voller Hoffnung, oder in der Zeit kurz davor, auf sich gestellt mit einer Ausbildung und einer Arbeit, endlich frei, ein lichter Moment, in dem alles möglich war. Und damals wiederum war sie nicht das ungewollte Ding, das sie so viele Jahre gewesen war, dem vergessene Ecken in ungenutzten Zimmern oder sogar auf Dachböden oder, in einem Fall, im Keller gewährt wurden, und schon da war sie – im Grunde niemand, eine Art Geist – nicht wie an jenem Tag, da sie in dem Glauben nach Hause kam, sie habe noch eine Mutter.
    Die Luft warm und schal, ungeladen. Das Ufer diesig,Sitkafichten mit ihren seltsam knorrigen Verrenkungen wie ein ramponierter Wald, eben einer Naturkatastrophe entronnen, freigelegte bloße Felsen. Die Knöchelsteine nannten sie einen Flecken. Alles hier riesig und zugleich zu klein, beengt das Leben unter diesem Berg.
    Gary wie immer vollkommen absorbiert, gefangen in seinem Kampf mit der Blockhütte, ohne Irene wahrzunehmen, ohne eine Ahnung, was sie letzte Nacht durchgemacht hatte, schlaflos, ohne eine Ahnung, wie sie sich jetzt fühlte, im Kopf drehte es sich wie ein Kreisel in aberwitziger Geschwindigkeit. Er dachte, sie erfand den Schmerz, dachte, er sei nicht echt. Sie saß im Boot direkt vor ihm, mit dem Gesicht zu ihm, er aber brachte es fertig, während der ganzen Überfahrt nach vorn zu blicken, ohne sie überhaupt zu sehen. So, unter anderem, ließ er sie verschwinden.
    Als sie ankamen, kletterte Irene heraus und half, den Bug weiter an Land zu ziehen. Kaltes Metall selbst an einem warmen Tag.
    Sie liefen über Blaubeeren und abgestorbene Äste, um ein Erlendickicht herum zum Podest und den Rechtecken aus Baumstämmen, die sie gebaut hatten, die Lagen der Hütte. Gary schob ein Stück Holz hochkant unter die Stelle, an der er den Hammer ansetzte, Irene hockte sich auf die Baumstämme, um sie zusammenzudrücken, und der fünfundzwanzig Zentimeter lange Nagel drang tief in den oberen Stamm ein.
    Dann tat sich ein Spalt auf, ein Riss zu beiden Seiten des Nagels, ein Splittern.
    Verdammt noch mal, sagte Gary. Aber er hämmerteweiter, bis er tief im unteren Stamm angelangt war und die beiden Lagen fest zusammenhielten. Er schlug auf den Nagel, bis der Kopf im Holz versenkt war.
    Okay, sagte Gary. Geht so.
    Sie nahmen

Weitere Kostenlose Bücher