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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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dreiundzwanzig? Hast du ein Muffinhäubchen? Habe ich mich rasiert?
    Dieser Ton ist nicht notwendig.
    Raff’s endlich.
    Ich glaube, das gefällt mir nicht.
    Und wieso kriegst du dann einen Ständer, sobald dumich siehst? Ich glaube, es gefällt dir durchaus. Und ich glaube, heute fangen wir mal damit an, dich am Hundehalsband rumzuführen. Du wirst kriechen und betteln, bevor ich dir gestatte, mich zu bezahlen. Komm ja nicht ohne Hundehalsband zurück.
    Hast du sie noch alle?
    Schön, sagte sie. Dann ziehe ich mich jetzt an. Und sie ging zurück ins Schlafzimmer.
    Was geht hier vor?, fragte Jim.
    Ich ziehe mich an, sagte Monique. Dann fahren wir zur Bank, wo du mir fünftausend abhebst, dann in mein Hotel, um meine Sachen abzuholen, vielleicht zum Campingplatz, wobei ich mir das wahrscheinlich schenke, und danach zum Flughafen, wo du mir ein Ticket kaufst. Wir können am Flughafen zu Mittag essen, wenn du magst. Aber ich verschwinde aus diesem Scheißkaff.
    Ich mache das nicht. Er stand jetzt in der Tür zum Schlafzimmer und sah zu, wie sie Schlüpfer, BH und Jeans anzog.
    Dann erzähle ich Rhoda alles, sagte sie.
    Das ist Erpressung.
    Nicht ganz. Ich bin eine Treuhandfondsgöre. Ich brauche kein Geld. Ich brauche genau genommen nie zu arbeiten, das ist das Päckchen, das ich zu tragen habe, was du natürlich nicht verstehen kannst. Das ist nämlich ganz schön ätzend. Aber dir will ich einfach nur eine Lektion erteilen. Du hast anscheinend nicht ganz kapiert, was du hier hattest, also helfe ich dir beim Kapieren.
    Du kannst zu Fuß zum Flughafen gehen, sagte Jim.
    Der Preis ist soeben auf Zehntausend gestiegen.
    Jim war so wütend, er hätte sie umbringen können. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er solche Gefühle. Sie war nicht mal irritiert. Zog einfach ihre Stiefel an, als wäre nichts passiert. Als wäre er nichts.
    Sie blickte auf und lächelte. Fäuste, sagte sie. Überlegst du, ob du mich schlagen sollst? Würdest du dich besser fühlen, wenn du dich wehrst? Sie stand auf, lächelte noch mehr, ging ein paar Schritte auf ihn zu und trat ihn so schnell, dass er nichts machen konnte. Ihr langes Bein gestreckt, ihr Stiefel in seinem Magen, und er fiel rückwärts in den Flur. Er krümmte sich und bekam keine Luft.
    Sie stieg über ihn. Ich warte im Wagen.

A uf dem Weg nach Anchorage schien der Himmel nach unten zu drücken, grau und unstet, dunklere Regenstreifen. Herbst jetzt, nicht mehr lange bis zum Schnee. Die Bäume verfärbten sich bereits.
    Rossland war ähnlich gewesen. Ein Fluss und kein Meer, aber die gleichen breiten Gebirgsmassen, dichter Wald, schneebedeckte Gipfel. Der gleiche schwere Himmel, der gleiche kalte Wind selbst im Sommer, böig, ständig Gänsehaut. Irene schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern, versuchte, dort zu stehen, versuchte, flache Bilder in eine Landschaft zu verwandeln, durch die sie nochmals gehen konnte, denn sie hatte fünfundvierzig Jahre im Bemühen zugebracht, zu vergessen. Sie hatte alles auslöschen wollen, und das erschien ihr jetzt als schrecklicher Verlust. Irene wusste nicht recht, was anders war, aber etwas war passiert. Sie wollte sich an ihre Mutter erinnern, wollte sich an ihren Vater erinnern, wollte sich an die Zeit erinnern, da sie zusammengelebt hatten.
    Der Klang des Isländischen, nicht flach wie das Englische. Eine Art Musik, längere Vokale, jeder Ton klar, geformt, flüssig oder ein Atemhauch. In dieser Sprache ließ sich die Welt beleben. Ängstlicher, hübscher, niemals leer. Eine seit tausend Jahren unveränderte Sprache, ein Weg zurück in diese Zeit. Genau das hatte Garyangezogen. Ihre Verbindung zu dieser Urzeit, Isländisch heute fast dasselbe wie Altenglisch damals. In dieser Hinsicht war sie für ihn nie wirklich gewesen, sondern nur eine Vorstellung.
    Aber sie wollte nicht an Gary denken. Sie wollte ihre Eltern finden, und die blieben Schatten. Wenn sie sie doch hören könnte. Wie war es möglich, jedes Wort zu vergessen, die Stimmen nicht hören zu können, die sie jeden Tag ihrer Kindheit gehört hatte?
    Irene versuchte, sich an die Küche zu erinnern, wo sie an ihrem eigenen Tischchen gesessen hatte. Gelb gestrichenes Holz. Grobkörnig. Ihre Mutter an der Spüle, im Kleid, an ein Muster, eine Farbe konnte sie sich nicht erinnern, sie konnte beinahe das Wasser laufen hören, und sie wusste, dass ihre Mutter gesprochen hatte. Kein Gesicht, keine Stimme, ihr Vater sogar noch weiter weg. Und so waren ihr nur Vorstellungen

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