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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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Haar, nicht das übliche dunkle der Isländer. Ein schmales Gesicht, sonnenverbrannt. Ein Förster, der jeden Tag mit einer Axt loszog. Fast eine Gestalt aus einer Kindergeschichte, und genau davor hatte sie Angst. Dass sie alles an ihm erfunden hatte. War er wirklich jeden Tag mit einer Axt losgezogen? Hatte er einen grünen Schal um den Hals getragen?
    An seine Arme und Hände konnte sie sich allerdings erinnern. Kräftige Unterarme, braun und von Adern überzogen. Die Hände rau, schwielig. Sie sah sie vor sich, auf dem dunklen Holztisch bei Mahlzeiten. Sie wusste, dass die echt waren, eine Erinnerung. Erst wenn sie versuchte, sein Gesicht zu sehen oder seine Stimme zu hören, verlor sie sich.
    Erinnerst du dich an deine Eltern?, fragte sie Gary.
    Was? Gary wirkte aufgeschreckt.
    Entschuldigung. Ich versuche mich an meine Elternzu erinnern, als ich klein war. Ihre Gesichter, ihre Stimmen. Erinnerst du dich an deine?
    Ja, natürlich.
    Woran erinnerst du dich?
    Na ja, vieles.
    Sag mir eins.
    Herrgott, Irene. Da fällt mir so spontan nichts ein.
    Nur eine Erinnerung, für mich.
    Ja, Dad, sagte Rhoda von der Rückbank, die seitlich in den Pickup gequetscht war. Würde ich auch gern wissen. Du erzählst nie was aus deiner Kindheit.
    Das ist hier wie die Inquisition, sagte Gary. Ich denke bloß an unseren Termin und wo wir heute Abend bleiben. Aber schön. Eine Kindheitserinnerung. Etwas aus Lakeport. Wie wär’s mit einer Jagderinnerung?
    Keine Gewehre, sagte Irene. Du hast es immer mit den Gewehren. Die ganzen Sachen, die du als Kind geschossen hast. Erzähl uns was anderes.
    Genau, sagte Rhoda.
    Herrgott. Mir fällt gerade nur Jagen und Fischen ein.
    Erzähl uns was aus der Küche, sagte Rhoda.
    Gary blies die Wangen auf. Na schön, sagte er schließlich. Das ist keine bestimmte Zeit. Ich erinnere mich einfach daran, wie mein Dad am Tisch beim Fenster sitzt, auf den See blickt und aus einem Topf Pilzrahmsuppe auf seine Pfannkuchen gießt. Und ich erinnere mich, wie er mir farbige Pfannkuchen gemacht hat. Blau und grün und was immer ich mir gewünscht habe.
    Was hat er gesagt?, fragte Irene.
    Was?
    Was hat dein Vater zu dir gesagt, wenn er die Pfannkuchen gemacht hat oder die Suppe drübergegossen hat?
    Keine Ahnung.
    Genau das will ich wissen, sagte Irene. Ich will einen Moment, wo du dich genau erinnerst, was er gesagt hat oder was deine Mom gesagt hat und wie sie in diesem Moment ausgesehen haben.
    Wieso fragst du danach, Mom?
    Weil ich mich an meine Eltern nicht erinnern kann, nicht mal an einen einzigen Moment.
    Dazu sagte erst mal keiner was, also blickte Irene aus ihrem Seitenfenster auf Felsen und Bäume, die rauen Bergflanken. Diese Felsen erzählen uns genauso viel über uns wie unsere Erinnerungen, sagte sie.
    Die Felsen eine Art Zeichen für alles, was wahr ist auf der Welt, dachte Irene. In Lagen und Streifen, erkennbar, geordnet, aber im Grunde sämtlich bedeutungslos. Unter Druck geformt über Millionen oder Milliarden von Jahren, nach oben gewuchtet, gebogen und geschoren, alles umsonst. Die Felsen waren nur das, was sie waren. Nichts erwartete sie, und sie waren nicht Teil einer Geschichte.
    Wir leben und sterben, sagte Irene. Und es spielt keine Rolle, ob wir uns daran erinnern, wer wir sind oder woher wir kommen. Es war ein anderes Leben.
    Ich finde nicht, dass das stimmt, Mom.
    Du bist noch jung.
    Ich versuche immer noch, mich zu erinnern, sagte Gary. Und ich erinnere mich nur an die Spannungen.Nur die bleiben im Gedächtnis. Beim Binokel, mein Dad legte einen Durch auf, aber das verstand ich nicht, also sagte ich so was wie, Moment, wie geht das denn, und da fragte mein Dad, willst du etwa sagen, ich hab geschummelt? Ich erinnere mich genau an die Worte und auch an seinen Blick, unversöhnlich. Er hatte seine Meinung, und was Mom oder ich sagten, war völlig egal.
    Du erinnerst dich, sagte Irene. Du erinnerst dich wirklich.
    Ja. Auch an andere Momente, aber aus irgendeinem Grund nur die angespannten. Wie Dad mir beim Aufsammeln der Walnüsse aus dem Vorgarten fünf Cent pro Stück geboten hat und Mom sagte, Doug, das ist zu viel, und wie besorgt sie ausgesehen hat und wie mir das aus irgendeinem Grund Angst gemacht hat, als würde etwas Schreckliches passieren. Meine früheste Sorge um Geld wahrscheinlich. An ihren Gesichtsausdruck kann ich mich noch erinnern.
    Irene legte ihre Hand auf Garys Schulter. Danke, sagte sie. Du kannst dich wirklich erinnern. Und ich weiß nicht, wieso mir das nicht

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