Die Unermesslichkeit
geblieben. Es hatte eine andere Frau gegeben, das wusste sie, wobei sie nicht wusste, woher sie das wusste. In welchem Moment hatte sie das erfahren? Und hatte sie verstanden, was das bedeutete, dass ihr Vater sie beide verließ? Konnte sie das begriffen haben? Die Erwachsenenwelt ein Mysterium und eine Last, so viel wusste sie noch. Eine Verzweiflung so unbeweglich wie ein Berg. Ihre Eltern, die Entscheidungen trafen, ihr Schicksal besiegelten, und jetzt waren sie noch weiter fortgegangen, in mythische Ferne. Verwandelte Geschichten, die Wahrheit nicht zu ermitteln. Eine andere Frau, und ihre Mutter erhängte sich, und ihr Vater für immer weg, und sie sah ihn nie wieder. Aber was für eine Geschichte, die das erklären konnte?
Sie kamen von den Bergen herunter und fuhren am Wasser entlang, Turnagain Arm, ein langer Fjord, Felsen pur zu beiden Seiten, mit weißen Spitzen. Dem Pfad eines urzeitlichen Gletschers folgend, der möglicherweise dieses Tal und diese Bucht gefüllt hatte, wobei Irene nicht wusste, ob das stimmte. Das Wasser war wie ein Fluss, bei stehenden Wellen zwei Meter hoch, die »Sprungwelle« so extrem, dass sie tatsächlich einen Klang hatte, ein tiefes Röhren. Im Winter stockte hier das Eis und brach, tiefe Ströme und Rinnen kerbten sich durch Blöcke, groß wie Autos oder gar Häuser. Keiner draußen auf dem Wasser.
Sie fragte sich, ob Island so war. Sie war nie dagewesen. Sie hatte noch Verwandte dort, aber keinen, der sie je gesehen hatte. Sie wären Fremde, und sie würde nicht mehr mit ihnen sprechen können. Bis zehn hatte sie zu Hause nur Isländisch gesprochen, Englisch in der Schule, aber dann war diese Sprache für sie gestorben.
Auch die Geschichten hatte sie verloren, Kindergeschichten. In der Erinnerung sah sie nur Gestalten in einer Landschaft. Sie hatte ihre Bewegungen und Worte verloren, ihren Sinn. Eine Gestalt im Wald, das Gefühl für den Wald, beängstigend, oder eine Gestalt auf dem Meer, irgendein kleines Boot, ein uraltes Schiff. Ein Steinhaus, aber selbst da war sie sich nicht sicher. Es könnte ein Holzhaus gewesen sein mit einem Steinkamin.
Und Lieder. Die hatte es auch gegeben. Hoffnungslos verloren.
Aber es gab noch Dinge, die sie wusste. Ihre Mutterhatte schreckliche Schmerzen im Kopf gehabt und um Ruhe gebeten. Wo sie herkamen, das wusste sie nicht. Vom Kummer über den Weggang des Vaters? Waren sie kurzfristig aufgetreten, erst zum Schluss, oder hatte es sich über Jahre hingezogen? War es bloß medizinisch, so etwas, wie Irene jetzt hatte? Und gab es überhaupt so etwas wie bloß medizinisch? Wenn etwas einmal das Leben bestimmte, verband es sich dann nicht mit dem, was man war, auch wenn es nur körperliche Ursachen hatte?
Irene schloss die Augen und versuchte, den Schmerz auszuatmen, ihn tiefer rutschen zu lassen. Dachte sie sich all das über ihre Mutter nur aus? Hatte ihre Mutter wirklich über Schmerzen in ihrem Kopf geklagt? Irene hatte kein Bild vor Augen, keinen Moment, in dem ihre Mutter sich die Stirn gerieben hätte, keinen Beleg. Und ihr Bewusstsein spielte ihr doch immer wieder Streiche. Wenn sie sich an etwas erinnern wollte, fing sie an, sich daran zu erinnern, bis sie nicht mehr wusste, was wirklich war. Zum Beispiel hatte sie eine Erinnerung an ihren Vater. Sie fuhren zusammen Schlitten, einen Holzschlitten mit Metallkufen. Sie stiegen einen riesigen Schneehügel hinauf, ihr Vater trug den Schlitten, und sie lachten. Als sie oben ankamen, legte sich ihr Vater bäuchlings darauf, Hände an der Lenkstange. Irene legte sich auf ihn, schmal und leicht, und schlang die Arme um seinen Hals. Ihr Vater juchzte, und sie fuhren los. Irene schrie vor Angst und Entzücken, und sie flogen in unglaublichem Tempo diesen Abhang hinunter. Aber vom Ende gab es verschiedene Versionen. In einerkippten sie und rutschten und rollten und landeten zusammen lachend in einem Knäuel. In einer anderen fuhren sie so schnell, dass Irene abhob und sich nur mit großer Mühe am Hals ihres Vaters festhalten konnte. Und in einer weiteren kippten sie, knallten hin, und sie weinte. Keines dieser Enden war wirklicher als die anderen, und so hatte es den Anschein, als wäre das Ganze erfunden. Höchstwahrscheinlich hatte es überhaupt nie einen Schlitten gegeben. Sie hatte sonst keine Erinnerungen daran. Die ganze Szene zu idyllisch, eine Winterszene. Der Versuch einer Erinnerung an ihren Vater.
Er war noch jung gewesen, als sie ihn das letzte Mal sah, Anfang dreißig. Blondes
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