Die Unermesslichkeit
gelingt.
An irgendwas wirst du dich doch wohl erinnern, sagte Gary.
Nein. Wirklich nicht.
Ich habe massenhaft Erinnerungen an euch, sagte Rhoda. Rückblickend kommt es mir vor, als hättet ihr überhaupt nie den Mund gehalten.
Gary lachte. Danke, Spatz.
Irene lächelte. Sie hatte nie Mutter sein wollen,eigentlich nicht, aber mit Rhoda hatte sie Glück gehabt. Mit Mark weniger.
Die Straße vor ihnen, kurz vor Anchorage, war vor lauter Wohnmobilen verstopft, letzte Sommerbesucher. Einige fuhren ran, um sich Wasserfälle oder die Bucht anzusehen. Sie sammelten sich dann in Anchorage, um die lange Fahrt durch Kanada ins Kernland anzutreten. Snowbirds auf dem Weg zu ihren Winterquartieren in Arizona und Florida.
Woran ich mich nicht erinnern kann, sagte Gary, ist dass mein Vater jemals von seinem Cherokee-Erbe erzählt hätte.
Er war Cherokee?, fragte Rhoda.
Ja, ein Viertel. Sein Vater halb. Wusstest du das nicht?
Ich auch nicht, sagte Irene. Verdammt noch mal.
Hab ich das nie erzählt?
Nein, sagten Rhoda und Irene.
Na, er auch nicht. Ich habe es von Mom erfahren.
Ihr seid beide Freaks. Meine Eltern sind Freaks. Und ich bin eine Cherokee, wie es scheint.
Bloß ein Sechzehntel, sagte Gary. Tut mir leid, dass es nicht mehr ist.
Dann schaltete Gary das Radio an, und sie lauschten alten Beatles-Songs.
Sie hatten vorgehabt, vor dem Arzttermin noch irgendwo zu Mittag zu essen, aber der Verkehr ließ ihnen keine Zeit. Irene betrat die Praxis, schwindelig vor Hunger und Medikamenten. Getrunken hatte sie auch nichts.
Sie kam sofort dran, pünktlich zum Termin, was eineneue Erfahrung war. Dr. Romano groß, dunkel, gutaussehend, angegrautes Haar, Kinngrübchen. Er hatte wunderschöne Hände, volle Lippen. Wie eine römische Statue.
Er hörte sich Irenes Leidensgeschichte und Symptome an und legte dann den Stift hin.
Wir finden heraus, was Ihnen fehlt, sagte er. Manchmal zeigt sich eine Entzündung der Keilbeinhöhle nicht auf dem Röntgenbild. Sie liegt zu weit hinten, unter Ihrem Gehirn, sodass sie schwer sichtbar ist. Ich möchte, dass Sie eine Computertomographie machen.
Wann ginge das?, fragte Irene. Dazu muss ich wohl noch mal nach Anchorage kommen. Ich hatte wirklich gehofft, dass sich heute etwas klärt.
Ich habe schon einen Termin gemacht, sagte Dr. Romano. Es ist nebenan, Sie können gleich rübergehen.
Irene schnürte es den Hals zu. Von einem Arzt nicht wie Dreck behandelt zu werden, war eine neue Erfahrung für sie. Wow, brachte sie schließlich heraus. Danke.
Eine Viertelstunde später lag sie schon in der Röhre, versuchte, den Kopf stillzuhalten, versuchte, sich beim Atmen nicht zu sehr zu bewegen. Sie hielt die Augen geschlossen, um in der Enge nicht panisch zu werden, aber sie spürte die kalte Gegenwart der Maschine beim Klicken und Surren.
Anschließend fuhr Gary mit ihnen zum Mittagessen. Ein Imbiss abseits des Highway. Irene bestellte Heilbutt und Pommes.
An einem Plastiktisch warteten sie auf ihr Essen mitBlick auf den Verkehr. Das war unglaublich, sagte Irene.
Ja, sagte Rhoda. Ich kann gar nicht glauben, wie schnell das gegangen ist. Was für ein Unterschied.
Frank sollte einen langsamen, qualvollen Tod sterben.
Irene, sagte Gary.
Doch. Er behandelt alle wie Müll, und er ist unfähig. Er sollte sterben.
Vielleicht ein bisschen extrem, Mom.
Irene lächelte. Okay. Frank soll leben. Aber ich bin einfach so froh über Dr. Romano. Er findet raus, was los ist, und ich kann gesund werden und nach vorne schauen. Inzwischen ist mir egal, wie schlimm so eine Operation ist. Der Schmerz muss weg.
Hat er schon was über Operation gesagt?, fragte Rhoda.
Nicht viel. Eine Woche liegen mit Nasentamponade, was höllisch klingt, aber dann ist das Gröbste vorbei, bloß noch ein paar Nachsorgetermine.
Hm, sagte Gary. Er mochte überhaupt nicht hinhören. Er war schon immer zart besaitet gewesen. Wenn mit einem der Kinder etwas war, musste Irene da alleine durch, von Windeln über Knochenbrüche bis zu Drogen. Gary schaffte es stets, sich aus dem Staub zu machen.
Du bist gefälligst für mich da, wenn ich operiert werde, sagte sie.
Was?, fragte Gary.
Du hast mich schon verstanden. Wenn es ungemütlich wird, haust du immer ab. Aber wenn ich operiertwerde, wirst du jeden Morgen, Mittag und Abend an meinem Bett sitzen. Ich werde Schleim und Blut in deine Hand spucken, und dir wird’s gefallen.
Herrgott, Irene.
Ich meine es ernst. Nicht, dass du wieder den Schwanz einziehst.
Mom, sagte Rhoda.
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