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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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Ich bin mir sicher, dass Dad für dich da sein wird, und ich auch.
    Du wirst da sein, sagte Irene. Aber dein Dad wird abhauen. Ah, unser Essen ist fertig. Ich gehe es holen.
    Tut mir leid, Dad, sagte Rhoda, als ihre Mutter weg war.
    Schon okay. Sie dreht einfach ein bisschen durch. Nichts Neues.
    Das ist ungerecht.
    Wen kümmert’s. Gerechtigkeit hat noch nie gezählt. Da führt ja offensichtlich keiner Buch.
    Dad.
    Egal.
    Irene kam mit einem Tablett voller Fish and Chips zurück. Ihr habt über mich geredet.
    Tja, sagte Rhoda.
    Irene betupfte ihren Fisch mit einer Serviette, die sich sofort vollsaugte. Genug Öl?, fragte sie. Dann nahm sie einen Bissen mit Ketchup. Tiefgefroren, sagte sie. Sie nehmen tiefgefrorenen Heilbutt. Wer nimmt schon tiefgefrorenen Heilbutt?
    Es schmeckt ganz gut, sagte Gary. Geht zumindest.
    Geht, sagte Irene. Geht so. Dein Lebensmantra.
    Mom, sagte Rhoda.
    Und dann aßen sie nur noch. Keiner hatte mehr Lust zu reden. Sie fuhren zu einem Motel 6, meldeten sich an und gingen in ihr Zimmer.
    Ich muss mich hinlegen, sagte Irene. Sie nahm noch eine Codein und versuchte, in den Schlaf zu sinken. Rhoda legte sich aufs andere Bett, schlief schnell ein mit schwerem, rauem Atem in dem kleinen Zimmer. Gary machte irgendwo einen Spaziergang, war wieder einmal verschwunden.
    Irene hatte Angst vor Operationen, selbst der Aussicht auf eine Operation. Sie hatte sich nach den Risiken erkundigt, und Romano hatte gesagt, es bestehe das Risiko, zu erblinden, einen Sehnerv zu treffen. Das und an der Narkose zu sterben. Und die Knochen in ihrem Kopf könnten gereizt werden, nach der Operation wachsen und erneut alles blockieren. Sie verstand nicht so recht, wie ein Knochen wachsen konnte, aber anscheinend war das möglich. Und eine Woche lang könne sie nicht durch die tamponierte Nase atmen. Derweil würde sich ihr Rachen mit Blut füllen. Schon beim bloßen Gedanken packte sie die Panik. Man stelle sich vor, nicht schlucken und nicht atmen zu können.

G ary versuchte, beim Spazierengehen den Kopf durchzulüften. Er fühlte sich angeklagt. Seit Jahren schon, und was hatte er sich eigentlich zuschulden kommen lassen? Kein Verbrechen, dessen er sich bewusst gewesen wäre. Nur das Verbrechen des Miteinanders, das Verbrechen, da zu sein. Seine Ehe etwas Schweres und Bedrängendes.
    Er lief nicht gern durch eine Stadt, nicht mal eine Stadt wie Anchorage, die zumeist einstöckig war und weitflächig und eigentlich gar keine Stadt. Schmutzig und leer, endlose Einkaufszeilen. Auto- und Truckhändler, Industriebedarf, fensterlose Nachtclubs, Fast Food und Waffengeschäfte. Ein sonniger Nachmittag an einem toten Ort.
    Irene ging ihn an, schon eine ganze Weile. Er wusste nicht, wieso. Aber sie ließ nicht locker. Die ständigen Klagen. Er sei schwach, würde abhauen, sei nie für sie da, ein permanenter Versager, eine ständige Enttäuschung. Sie fand die Hütte idiotisch, fand sein Leben idiotisch. Und worauf zielte sie ab? Darauf, sie beide unglücklich zu machen?
    Gary zog die Jacke aus, vom schnellen Gehen wurde ihm warm. Hoffentlich konnte der Arzt die Kopfschmerzen beheben. Das wäre eine Verbesserung. Der tägliche Wahnsinn würde erheblich gemindert.
    Er versuchte, nicht über sie nachzudenken, versuchte, einfach nur zu laufen. Schlammbespritzte Pickups und Wohnmobile rollten vorbei, ballten sich vor roten Ampeln. Er mochte seine Wege zu Hause, den Pfad zu Marks Haus, den Pfad über den ersten Kamm, längere Wege den Berg hinauf. Auf der Insel noch mehr zu erkunden, viel mehr zu erkunden. Aber erst mal musste er eine Hütte fertigstellen. Ihm lief die Zeit davon.
    Gary blieb stehen, machte die Augen zu und versuchte, sie vor sich zu sehen, versuchte, in seiner Hütte zu stehen, die Blockwände, der alte Eisenofen in der Ecke, Nickelfüße. Ein grober Tisch, fellbezogene Sitzbänke, ein Bett am Ende des Zimmers, darüber sein größtes Bärenfell. Holzwölfe zu beiden Seiten der Tür, das eine Fenster bleiverglast. Ein Schaukelstuhl mit Blick durch dieses Fenster, vielleicht eine Pfeife. Vielleicht würde er sich das Pfeiferauchen angewöhnen.
    Gary seufzte, machte die Augen auf, ging weiter. Noch eine Menge Arbeit, bis er über diesen Schaukelstuhl nachdenken konnte. Und sehr wenig Hilfe. Jeder Schritt des Projekts würde ein Kampf werden. So war es.
    Nach nicht allzu langer Zeit fand sich Gary wieder vor dem Motelzimmer, öffnete und schloss leise die Tür.
    Ich schlafe nicht.
    Das tut mir leid, Irene. Ich

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