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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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war.
    Bei diesem Gedanken stutzte sie. Sie starrte auf den fleckigen Restaurantteppich und fragte sich, was sie eigentlich liebte. Bloß eine Idee? Hatte ihre Liebe überhaupt etwas mit ihm zu tun?
    Der billige Teppich hatte Fleur-de-Lis-Muster, Möchtegernmonarchie. Hellbrauner Plastikstreifen an der Trennwand, dort, wo sie auf den Teppich traf, Nägelköpfe sichtbar. Sie hasste billig und deprimierend und kalt und einsam. Das war sie, mehr nicht. Bloß eine, die all diese Dinge hasste und vor ihnen davonlief. Sie hatte auch keine Füllung.
    Bitte schön, sagte die Kellnerin, und Rhoda konnte nicht mal antworten. Als wäre das alles unwichtig. Sie starrte auf den Eisbecher, je eine halbe Banane zu beiden Seiten, obwohl sie kein Bananensplit bestellt hatte, und die drei Eiscremesorten, die seit mindestens fünfzig Jahren serviert wurden, mit den vier Soßen, und obendrauf drei Kirschen. Eine Formel für Glück wie Ehemann, Haus und Kinder, drei Häufchen, und irgendwie sollte man davon satt werden oder sich beim Versuch überfressen.

D er Coleman-Kocher hatte eine Rückwand, einen Windschutz, aber wenn Irene die auszuklappen versuchte, kippte der Kocher und verlor Benzin, zu starker Wind. Jede Menge Propangaskocher auf dem Markt, und sie benutzten noch einen mit Flüssigbrennstoff. Sie würde das Zelt vollqualmen. Der Wind auf Dauer hassenswert. Gepresst und rachsüchtig.
    Irenes Kapuze wurde hinuntergeweht, ihr Kopf jetzt dem Regen ausgesetzt, doch sie drückte den Feuerzünder an den Brenner, klickte, und der Funke sprang über. Ein kurzer Wärmeblitz an ihrer Hand. Sie regulierte die Flamme, und sie hielt, doch die Windstöße so stark, dass nie ein vollständiger Ring entstand, die eine oder die andere Seite immer ausging.
    Irene setzte ihre Kapuze wieder auf, wandte sich vom Wind ab und zitterte. Er sollte sichtbar sein. Man sollte den Wind sehen können. Er hatte Wucht und Gewicht, ein nackt in die Welt getragener Wille, unversöhnlich. Er würde wehen, bis die ganze Welt glatt war und nichts mehr im Wege stand.
    Der Fünfliter-Wasserbehälter war schwer, also kippte Irene ihn nur an, füllte einen Topf, stellte ihn auf den Kocher und schloss den Deckel. Das Wasser sollte in etwa zwei Stunden kochen. Nach ihrer Schätzung. Noch so ein unmöglicher Teil ihres blöden Plans. Koch unsdoch ein paar Nudeln, Irene. Klar, Big Daddy, kommt sofort. Lass du dich mal nicht aufhalten mit deinem Haufen Stöcker.
    Irene kauerte sich so tief sie konnte, das Gesicht dicht an einem Flecken Zinnkraut, dürren, verzweigten Spindeln. Jetzt nur eine Handbreit, sagte sie zu den Pflanzen, aber ihr wart mal höher, stimmt’s? Sie sahen schmächtig aus, hinfällig, doch einst waren sie so hoch gewachsen wie Mammutbäume, früher, als andere Pflanzen noch nicht wussten, wie sie über fünf Zentimeter hinauswachsen sollten. Die ersten mit einem Gefäßsystem. Das Leben der Pflanzen wie das der Menschen, voller Kämpfe und Herrschaft, voller Verlust und Träume, die nie wahr wurden oder nur kurz. Und das war das Schlimmste, etwas zu haben und dann nicht mehr zu haben, das war gewiss mit Abstand das Schlimmste.
    Irene riss das ganze Zinnkraut heraus, warf es zur Seite. Zeit zu gehen, sagte sie zu den Pflanzen. Ihr seid schon zu lange da. Dann stand sie auf, stemmte sich gegen die Böe und stapfte zu Gary, zur Bruchbude.
    Gary sägte sich durch die Vorderwand, ruckartig, vor, zurück.
    Kannst du mal gegen die Wand drücken?, rief Gary. Die Säge klemmt.
    Die Wand bog sich bereits und keilte die Säge ein. Wie würde es erst aussehen, wenn er einen Teil herausnahm? Irene wusste, dass er so weit gar nicht gedacht hatte. Sie lehnte sich neben ihm gegen die Wand. Geruch nach Sägespänen selbst in diesem Wind, Garys Gepuste und Geschnaufe neben ihr, das Geräusch reißenderSägezähne. Ihm gefiel es, das wusste sie. Und vielleicht sollte sie ihm nicht grollen. Sie hielt sich am obersten Baumstamm fest, raue Borke, legte die Wange daran und spürte, wie sich die ganze Wand bewegte.
    Wieder eine Bündelung hinter ihrem rechten Auge, eine Verwerfungslinie, die Knochen ihres Schädels sich verschiebende tektonische Platten, die an den Rändern mahlten. Ihr einziges Ziel jeden Tag war inzwischen, durch den Tag zu kommen, ihr einziges Ziel in jeder schlaflosen Nacht, durch die Nacht zu kommen. Auf die Existenz reduziert, das schiere Überleben, und vielleicht hatte das auch was Gutes, etwas Aufrichtiges. Allerdings fühlte sie noch andere Dinge,

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