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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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leise schwebende Töne irgendwo da draußen: Einsamkeit, zum Beispiel. Rhoda fehlte ihr. Sie hatte noch nicht ganz aufgehört zu fühlen.
    Irene fragte sich, ob es das Ende ihrer Mutter möglich gemacht hatte, das Verblassen des Gefühls. Sie hatte es sich immer genau andersherum vorgestellt: ihre Mutter außer sich, fassungslos, ihren Mann an eine andere Frau verloren zu haben, unfähig, sich ihr Leben ohne ihn vorzustellen. Was aber, wenn sie einfach gar nichts mehr gefühlt hatte, nachdem alles verloren war? Das war eine neue Möglichkeit, etwas, worauf Irene nicht gekommen wäre. Und es fühlte sich gefährlich an. Man konnte dort enden, ohne den Übergang zu bemerken.
    Fester, rief Gary. Sie klemmt immer noch.
    Entschuldigung, rief Irene zurück und drückte fester gegen die Wand, während ihre Füße über das Sperrholzrutschten. Sie bezweifelte, dass je eine Hütte so erbaut worden war, dass man gegen die Wände drücken musste, Wände, die so kümmerlich waren, dass sie sich im Wind bogen. Selbst die frühesten Pioniere mit ihrem groben Werkzeug hätten das besser hingekriegt.
    Noch fester zu schieben, drückte ihr auf den Kopf, gab dem Schmerz eine neue Intensität, die Kälte und der Wind und die Anstrengung eine perfekte Kombination. Das war die andere Möglichkeit: Selbstmord, um den Schmerz zu beenden. Eine einfache Gleichung. Leben nicht lohnend, wenn man nur Schmerz empfand, und wenn der Schmerz unendlich schien, war die logische Folge, sein Leben zu beenden. Aber sie würde es ihrer Mutter nie verzeihen. Ihre Mutter hätte sie lieben müssen, und das hätte ausreichen müssen. Irene würde Rhoda so etwas niemals antun.
    Irene musste einen Augenblick nachlassen, der Druck im Kopf zu stark, das Ganze ein Ballon.
    Weiter, rief Gary.
    Ich kann nicht, antwortete sie. Mein Kopf.
    Gary hörte auf zu sägen, die Säge eingeklemmt im Holz. Er richtete sich auf und musste sich mit einer Hand an der Wand festhalten, um nicht umgeweht zu werden. Irene duckte sich gegen den Wind.
    Du kannst nicht arbeiten? Garys Lippen zogen sich etwas zurück, ärgerlich, ungeduldig. Aber dann merkte er vielleicht, wie das klang. Schloss den Mund, blickte weg. Tut mir leid, sagte er.
    Ja, mir auch.
    Was?, fragte er. Versteh dich nicht bei dem Wind.Prügelnder Wind, je schneller, desto lauter das Heulen.
    Ich sagte, ja, mir auch.
    Ah.
    Sie merkte, dass er nicht zu fragen wagte, was sie meinte.
    Gary blickte auf die Wand hinunter, an der er sägte, sie bog sich nach hinten, klemmte die Lücke ein. Ich glaube, ich muss das vorher besser abstützen, rief er. Wenn ich die Stützen setze, kannst du drücken, während ich sie festnagele?
    Ja, rief sie. Schon.
    Gary kletterte über die Rückwand und ging zu den Kanthölzern. Irene sackte in der Hütte zusammen, größtenteils vor dem Wind geschützt, zog den Kopf ein, das Kinn in die Jacke, verschränkte die Arme, schloss die Augen.
    Ein angemessenes Bild für ihre drei Jahrzehnte in Alaska, kauernd in Regenzeug, verborgen, so klein wie möglich, Mücken abwehrend, die es irgendwie trotz Wind fertigbrachten, zu fliegen. Frierend und allein. Nicht die grandiose Vision, zu der man neigen würde, mit ausgebreiteten Armen an einem sonnigen Tag an einem offenen Hang mit lila Lupinen, im Blick die umgebenden Berge. Das hier war ihr Leben, und sie wollte, dass es vorbeiging. Jedenfalls jetzt. Dichter Regen kam wieder herunter, und ihr fiel das Nudelwasser ein, aber sie wollte nicht aufstehen.
    Gary sägte sich durch den Holzhaufen. Die Stützen würden wie Knie von jeder Wand in den Raum ragen,unmöglich, drinnen herumzulaufen, ohne über sie zu stolpern. Erstes Haus der Welt, das so konstruiert war. Irene, die glückliche Ehefrau.
    Aber sie sollte nicht so engstirnig sein, so kleinlich. So jemand wollte sie nicht sein. Also stand sie auf, segelte übers Podest, kletterte über die Rückwand und ging nach dem Wasser sehen. Hob den Deckel ab, sah keine Bläschen. Hatte auch keine erwartet.
    Sie ging zu Gary. Ein von Sägespänen bedeckter Flecken jetzt, hell und rötlich im Regen. Das Wasser kocht nicht, rief sie. Zu viel Wind. Wie wär’s mit Sandwich?
    Ja, sagte Gary, ohne aufzublicken, auf das Sägen konzentriert.
    Irene stellte die Kochplatte aus und ließ den Topf mit Wasser fürs nächste Mal darauf stehen. Laut Vorhersage noch eine Woche Sturm, vielleicht zwei, das würde also dauern. Sie kniete sich in die Zeltöffnung, achtete darauf, nicht auf die Schlafsäcke zu tropfen, und

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