Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
Partner und Vertreter der «alten Schule», der als einer der aussichtsreichsten Anwärter für den Chefsessel galt, wenn der eines Tages neu zu besetzen wäre.
Ich versprach mir viel von der Studie, ich hoffte, Goldman könnte damit das verlorene Vertrauen seiner Kunden wiedergewinnen. Ich stellte mir vor, wie ich meinen Kunden in Asien besuchte und ihm sagte: «Hier, sehen Sie, wir sind den Dingen auf den Grund gegangen. Wir wissen, dass nicht gut ist, was passiert ist, und dass man das nicht von heute auf morgen vergessen machen kann. Aber wir arbeiten dran.»
Doch im weiteren Verlauf der Studie fragte ich mich, ob es nur eine Show war. Ich hätte gern an der Studie mitgewirkt, meine Meinung beigesteuert. Aber ich wurde nicht kontaktiert. Ich kannte niemanden, der kontaktiert worden war. Tagte der Ausschuss vielleicht von allen unbemerkt in irgendeinem Hinterzimmer?
Aber ich hatte ja immer noch meine «Real Money»-Nische. Tausende von Kunden und Goldman-Kollegen waren auf meinem Verteiler, wenn ich meine Marktanalysen verschickte. Ich hatte mir einen Ruf als gründlicher Analytiker erworben und bei meinen Marktvorhersagen öfter richtig-als falschgelegen. Dies war zum Teil Glück, doch seit meiner «Lehrzeit» bei Rudy und später Corey hatte sich mein Gespür für den Markt verbessert. Es war schärfer geworden – ich ahnte häufig intuitiv, wie Märkte auf verschiedene Ereignisse reagieren würden. Schließlich hatte ich in meiner bislang zehnjährigen Laufbahn zahlreiche Blasen und Krisen miterlebt. Ich hatte gesehen, wie Marktzyklen funktionieren. Meine kleinen Aufsätze regten zu Diskussionen an. Die Leute sagten: «Hast du den letzten Beitrag von Greg Smith gelesen?» Und sie leiteten die Artikel an ihre Kunden weiter. Ich war sehr stolz darauf. Außer den beiden erwähnten MDs hat im Bereich Sales sonst niemand regelmäßig derartige Texte verfasst.
Ich war auch stolz darauf, dass ich immer eine gewisse Objektivität bewahrte. Ich sagte, was ich dachte, statt bloß Parolen nachzuplappern. Das kam nicht überall gut an. Eines Tages im Spätsommer 2010 zitierte mich meine Chefin, Beth, in ihr Büro, wo sie mir ein weiteres Mal unmissverständlich zu verstehen gab, dass ihr die flaue Geschäftsentwicklung Sorgen bereite, und mir klarmachte, was sie von mir erwartete. Als ich einen Artikel erwähnte, den ich vor kurzem geschrieben hatte, verzog sie das Gesicht.
Es war vermutlich unklug, aber ich musste etwas zu meiner Verteidigung sagen. «Ich will nicht vor Ihnen prahlen», sagte ich, «aber selbst einige unserer größten Kunden lesen die Beiträge. Sie stoßen auf große Resonanz.»
Sie schüttelte traurig den Kopf, als wäre ich ein besonders dummer Schüler. «Inhalte und Ideen bringen Sie bei Goldman Sachs nicht weiter, Greg», sagte sie. «Hier zählen allein die Zahlen.»
Seit 2002 hatte die Wall Street jahrelang an jedem 11. September drei Schweigeminuten eingelegt, um der Opfer der Angriffe auf das World Trade Center zu gedenken: eine um 8 : 46 Uhr, als der Nordturm getroffen wurde, eine um 9 : 03 Uhr, als der Südturm getroffen wurde, und eine um 9 : 30 Uhr – wenn der Handelsbeginn an der New Yorker Börse eingeläutet wird.
In den ersten Jahren hatte sich immer irgendjemand über das Lautsprechersystem zu Wort gemeldet. «Leute, Schweigeminute. Bitte leise.» Im Handelssaal wurde es schlagartig totenstill. Aber nach dem fünften Jahrestag im Jahr 2006 fiel mir auf, dass die Mitarbeiter gar nicht mehr hinhörten.
Die Schweigeminuten fanden woanders statt. Auf den Monitoren konnte man die Gedenkminute auf CNBC sehen, doch die Leute bei Goldman Sachs machten einfach weiter, als wenn nichts wäre: Sie riefen Kunden an und verfolgten die Bloomberg-Daten. Sie waren im Grunde wohl nicht respektlos, die meisten von ihnen waren einfach nur sehr jung.
Ab etwa 2005 lag die durchschnittliche Dauer der Betriebszugehörigkeit bei Goldman Sachs bei einer Mitarbeiterzahl von insgesamt 30 000 irgendwo zwischen zwei und drei Jahren. Wenn sich daher die Anschläge vom 11. September jährten, fehlte den neuen Mitarbeitern einfach der Hintergrund beziehungsweise die Vorgeschichte. Sie hatten damals noch nicht bei Goldman gearbeitet – sie waren auf dem College oder der High School gewesen. Abgesehen von dem kurzen jährlichen Gedenken, hatte Goldmans institutionelles Gedächtnis das Trauma verdrängt und begraben, sodass man im alten Trott weitermachen konnte.
Am 11. September 2010 lebten wir in
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