Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
Goldman-Mitarbeitern wahrnehmen und abhaken. Diese Leute würden unsere Leistung bewerten. Die wöchentlichen Berichte wurden gesammelt und katalogisiert, und zur Halbzeit setzten wir uns mit dem Leiter des Praktikumsprogramms zusammen und erhielten eine Leistungsbewertung. (Als ich das Programm im Sommer 2006 leitete, war ich für die Beurteilungen zuständig.) Der Praktikumsbeauftragte sagte: «Folgendes machen Sie nach Ansicht unserer Leute richtig. Die nachstehenden Punkte sind verbesserungsbedürftig. Diesbezüglich müssen Sie an Ihrer Einstellung arbeiten. Und das sind Ihre Schwächen.» Meine Halbzeitkritik war sehr allgemein gehalten. Wie ich später erfuhr, war das ideal. Man sagte mir Dinge wie: «Sie sind nicht dumm, müssen aber mehr aus sich herausgehen.» Das hieß, dass man mich bei Goldman Sachs dynamischer sehen wollte. Ich sollte auf andere zugehen, mich vorstellen und noch mehr Händler und Verkäufer «beschatten».
Das Gegenteil hätte vielleicht ein Praktikant zu hören bekommen, der zu forsch auftrat und alle Teammitglieder nervte, weil sie dachten: «Für wen hält der sich?» Es gibt da eine legendäre Geschichte über einen Sommerpraktikanten von der Harvard Business School, der zu der damaligen Partnerin und Chefin der Abteilung Government Bond Trading trat – einer kleinen chinesischstämmigen Amerikanerin, die als gefürchtetste Händlerin im ganzen Saal galt – und sagte: «Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich ein wenig zu Ihnen kommen?» Der Frager wusste eindeutig nicht, welchen Ruf sie genoss, und das war ihr auch nicht anzusehen, aber alle hatten einen Heidenrespekt vor ihr. Und ganz offensichtlich wusste der Praktikant auch nicht, dass der Zeitpunkt, den er für seine «Beschattung» gewählt hatte – 8 : 30 Uhr an einem bestimmten Freitag im Juli –, exakt der Moment war, an dem die Zahl der US-Beschäftigten ex Agrar (ohne Landwirtschaft) veröffentlicht wurde – für einen Trader effektiv der wichtigste und arbeitsreichste Tag des Monats. Sie sprang ihm förmlich ins Gesicht: «Für wen halten Sie sich eigentlich? Wissen Sie nicht, dass heute die Wirtschaftsdaten veröffentlicht werden? Bleiben Sie mir bloß vom Leib!» Der Betreffende erhielt am Ende eine Abmahnung. Die Wall Street tickt so. Das Urteil lautet: «Tja, der Mann hat keinerlei Gespür. Von den Marktdaten hätte er wissen müssen.» Andererseits, vielleicht hat er ja etwas daraus gelernt und hat später mehr Gespür gezeigt. Allerdings nicht bei Goldman Sachs, denn er wurde nicht übernommen.
Ich merkte, dass Erfolg bei Goldman, ob im Praktikumsprogramm oder später, viel stärker vom Urteilsvermögen abhing als vom Wissen. Zu Goldman Sachs kamen die intelligentesten Studenten der Welt, die ihre Zulassungstests mit 1600 Punkten bestanden und in Harvard als Jahrgangsbeste abgeschlossen hatten, und dennoch konnten sie sich als absolute Blindgänger entpuppen, die noch im ersten Jahr wieder vor die Tür gesetzt wurden. Das passierte dauernd, denn das Urteilsvermögen ist nicht erlernbar.
Im Sommer 2000 flogen gleich mehrere Praktikanten. Nach fünf oder sechs Wochen erwischte es einen Princeton-Studenten, der unbotmäßiges Verhalten an den Tag gelegt hatte. Er hatte im Beisein von Vorgesetzten mehrfach sarkastische Kommentare abgegeben.
Auch ein Praktikant aus Harvard, der später professioneller Online-Pokerspieler wurde, zeigte einen wahrhaft denkwürdigen Mangel an Urteilsvermögen. Das Ganze ereignete sich gegen Ende des Sommers bei einer Teambildungsschulung, die außerhalb, in einem Naturschutzgebiet knapp hundert Kilometer nördlich von New York, stattfand. Es war ein Freitag Ende Juli. Alle waren in Feiertagsstimmung. Zu Beginn des Praktikums hatte jeder von uns eine Goldman-Sachs-Sporttasche voller Artikel mit GS-Logo bekommen: Brieftasche, T-Shirt, Sonnencreme, Sonnenbrille, Flip-Flops. Heute war der Tag, an dem diese Tasche zum Einsatz kommen sollte. Wir sollten Flagge zeigen für Goldman.
Für die Schulung wurden wir in Sechsergruppen aufgeteilt und mussten in verschiedenen Disziplinen gegeneinander antreten: im Rudern, beim Dreibeinlauf, mit Denksportaufgaben. Letzter Punkt auf der Tagesordnung war, ein Lied zu schreiben – klingt albern und war es auch –, aus dessen Text hervorgehen sollte, was wir den Sommer über dazugelernt hatten. Mr. Harvard beschloss, mit seiner Gruppe einen Rap im Stil von Eminem zu schreiben.
Keine gute Idee.
Der Text hatte zwei anstößige Passagen. Eine bezog sich
Weitere Kostenlose Bücher