Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
Goldman-Analysten, die sich auf dem Fußweg versammelt hatten. Wenn es ein Terroranschlag war, so überlegten wir, wäre es vermutlich am sichersten, nicht zwischen den Wolkenkratzern im Zentrum zu bleiben, sondern Richtung Greenwich Village zu gehen, wo Kris wohnte.
Wir bogen nach rechts in die Seventh Avenue ein und wandten uns nach Süden. Ein Taxi war natürlich nicht zu bekommen. In der 23. Straße bogen wir in östlicher Richtung in die Sixth Avenue ab und liefen dann nach rechts in Richtung Village. Die Sixth Avenue ist eine der Straßen, über die man freien Blick auf Lower Manhattan hat. Daher konnten wir sehr genau die riesigen Rauchwolken sehen – und die furchtbaren Flammen, die aus beiden Türmen schlugen. An jeder Kreuzung standen Menschen in Grüppchen zusammen und schauten die Straße hinunter auf das Unvorstellbare. Wir gingen einfach weiter darauf zu, um uns in den niedrigeren Gebäuden des Village in Sicherheit zu bringen. Rückblickend hätten wir uns nach Norden wenden sollen, nicht nach Süden. Doch in der Situation konnten wir keinen klaren Gedanken fassen. Wir marschierten weiter, spekulierten wild herum, was da passiert sein mochte – und starrten dabei unverwandt auf die brennenden Hochhäuser.
Kurz vor zehn geschah vor unseren Augen etwas absolut Irreales: Der Südturm stürzte ein. Mit einem gewaltigen Grollen zerfiel er wie in Zeitlupe zu grauem Staub. Es war unfassbar.
Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Dann fingen die Menschen an zu schreien und rannten los. So etwas hatte noch niemand auf der Welt erlebt. Keiner wusste, wie er darauf reagieren sollte. Ich jedenfalls ganz sicher nicht. Einen Moment lang stand ich reglos da und versuchte, Ruhe zu bewahren. Es waren surreale Minuten, die sich für immer und ewig in mein Gedächtnis gebrannt haben. Zwei große Afroamerikaner standen bei uns und stierten den einstürzenden Turm an. Die Tränen liefen ihnen übers Gesicht. Auch mein Freund Kris weinte. Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. Mir war speiübel. In meinem Kopf rasten die Gedanken wild durcheinander. Tausende mussten in den Gebäuden gestorben sein. Ich war wütend über diesen Anschlag auf Amerika und gleichzeitig dankbar, am Leben zu sein.
«Schnell, lasst uns in meine Wohnung gehen», drängte Kris. «Es wird eng, aber ihr könnt bleiben, solange es nötig ist.» Die ganze Stadt stand jetzt zusammen.
Ich versuchte, meine Familie zu erreichen, um sie wissen zu lassen, dass es mir gutging. Meine Angehörigen saßen Tausende Kilometer weit entfernt in Südafrika. Ich hatte keine Ahnung, wie viel sie mitbekommen hatten. Ich hoffte, sie würden die Katastrophe nicht live mitverfolgen. Doch das Mobilfunknetz war zusammengebrochen, und so würde es noch stundenlang bleiben. Als wir endlich in Kris’ Wohnung ankamen, versuchte ich, über das Festnetz meine Mutter in Johannesburg anzurufen, doch sie besaß damals kein Handy und war nicht zu Hause. Der Erste, den ich erreichte, war mein Bruder Mark, der zu jener Zeit an der Universität von Kapstadt studierte. Ich erinnere mich sehr genau daran. Mein Bruder ist kein emotionaler Typ, doch er hatte sich kaum gemeldet, als er auch schon zu weinen anfing. Mir erging es nicht anders. Wie er mir später erzählte, hatte er befürchtet, ich könnte im World Trade Center gearbeitet haben.
Nach südafrikanischer Zeit am Abend erreichte ich endlich auch meine Mutter. Es stellte sich heraus, dass sie erst spät am Tag von dem Anschlag erfahren hatte. Sie hatte sich daher nur so lange sorgen müssen, bis sie meinen Bruder erreichte, der ihr bestätigen konnte, dass ich in Sicherheit war. Sie hat immer gesagt, sie sei sehr dankbar gewesen, dass sie sich nicht den ganzen Tag hatte ängstigen müssen.
Wir saßen in Kris’ Wohnung beieinander, während es langsam Abend wurde. Wie hypnotisiert verfolgten wir Aaron Brown und Paula Zahn auf CNN. Irgendwann schlief ich erschöpft auf der Couch ein. Am nächsten Morgen ging ich – es war surreal – zum 2nd Avenue Deli (in guten Zeiten meine bevorzugte Anlaufstelle für koschere Köstlichkeiten an der Ecke Second Avenue und 10. Straße). Wider Erwarten war geöffnet. Da ich am Vorabend nichts mehr gegessen hatte, verspürte ich plötzlich einen Riesenhunger. Ich bestellte mir ein Cornedbeef-Sandwich. Während ich wartete, diskutierten ein Afroamerikaner und ein älterer Jude lautstark über die Gründe für den Anschlag auf Amerika. Ein noch surrealeres Bild boten die
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