Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
erlitten hatten. Goldman-Mitarbeiter zahlten 5,5 Millionen Dollar ein, die die Firma um die gleiche Summe aufstockte.
Das war der Makrokosmos. Im Kleinen versuchte ich auch in dieser Ausnahmephase, mich in meinen Job einzuarbeiten. Jeden Morgen um 5 : 30 Uhr drängten sich alle neuen Analysten im Kopierraum. Das war unsere erste Interaktion des Tages. Wir wetteiferten um das Gerät, da wir stapelweise Kopien für die höherrangigen Mitglieder unserer Teams parat haben mussten, wenn diese um sechs ins Büro kamen. Wir kopierten Research-Berichte über Aktien, die von Goldman-Analysten durchleuchtet worden waren. Wir fassten Artikel aus dem Wall Street Journal oder von Bloomberg zusammen, die für das Tagesgeschäft bedeutsam waren. Hinter dem Zusammentragen und Kuratieren all dieser Daten stand der Gedanke, dass man seinen Vorgesetzten Arbeit abnahm. Sie mussten nicht selbst Hand anlegen, um all das Material zu durchforsten. Das war der Mehrwert eines jungen Analysten.
Ein gewisse Bekanntheit als Junior Analyst erlangte ich durch eine Beobachtung, die ich schon bald nach meinem Eintritt in die Firma gemacht hatte. Sobald ein Unternehmen seine Ergebnisse bekannt gab, wollte jeder an der Wall Street die Zahlen zur Hand haben. Waren sie gut oder schlecht ausgefallen? Als ich zu Goldman kam, fiel mir auf, wie sich alle um die Research-Berichte rissen, um die Zahlen in Erfahrung zu bringen. Ich kam auf die Idee, allen Sales-Tradern und Tradern im achtundvierzigsten Stock vor der Herausgabe einer Gewinnmeldung per E-Mail einen schlichten Fünfzeiler zukommen zu lassen. Er lautete: «Heute Vormittag meldet Apple seine Ergebnisse. Hier unsere Erwartungen; die Zahlen aus dem letzten Quartal; der iMac-Absatz; unsere Absatzprognose.» Diesen kleinen «Spickzettel» hatten alle Händler vor sich, bevor die neuen Zahlen bekannt wurden.
Mit so etwas konnte sich ein Analyst beschäftigen, der die «Series 7»-Prüfung noch nicht bestanden hatte. Sie mochten banal und albern wirken, doch wenn die anderen sahen, was man tat, dachten sie vielleicht: Der Kerl hat Ideen – er versucht, sich nützlich zu machen.
Außerdem lernte ich damals, wie man einem Kunden möglichst optimal Voicemail-Nachrichten hinterlässt. Ich lernte dabei noch einmal ganz neu, wie man über Aktien sprach. Ich übte jeden Tag, bis alles passte, denn so eine Nachricht durfte maximal neunzig Sekunden lang sein und musste vier oder fünf tagesaktuelle Kernpunkte abdecken. Welche Ereignisse bewegten den Markt? Was musste der Kunde wissen? Welche Auffassung vertraten wir? Ich lernte von einem wahren Meister dieses Fachs: Rudy. Mein Mentor wurde auch deshalb «das Tier» genannt, weil er mehr solche Nachrichten an Kunden absetzte als jeder andere – stets hochengagiert und mit fundiertem Marktwissen.
Rudy wusste sehr genau, warum er diese Kurzberichte mündlich ablieferte statt per E-Mail. Er fand, dass er durch seinen Tonfall jeden Aspekt genau richtig akzentuieren konnte. Als ich eine Weile im Geschäft war, hielt ich offen gestanden nicht mehr viel von Voicemails. Wenn ein Kunde davon jeden Morgen hundert Stück bekam, wie hoch war dann die Wahrscheinlichkeit, dass er ausgerechnet auf meine besonders achten würde? Sobald ich meine Kunden besser kannte, war meine Beziehung zu ihnen ohnehin so gut, dass sie den Anruf annahmen, wenn sie meinen Namen auf dem Display sahen.
Nach dem 11. September waren die Wetten auf die «Series 7»-Kandidaten sichtlich erlahmt. Niemand im Handelssaal war mehr in der Stimmung. Ich auch nicht. Nachdem ich gesehen hatte, wie schwer die Prüfung war, vergrub ich mich noch tiefer in meine Bücher – so lange, bis ich bei den Übungstests 82 oder 83 Punkte schaffte. Es fiel mir aber sehr schwer, mich in dieser Zeit zum Lernen zu motivieren.
Einen Monat nach den Anschlägen fanden wir uns erneut im One Penn Plaza ein. Wir fuhren mit demselben Aufzug in den sechzehnten Stock. Warteten in demselben Warteraum. Trafen auf dieselben Betreuer, die die Prüfung überwachten. Ich schaute durch dasselbe hohe Fenster, durch das ich den brennenden Nordturm gesehen hatte. Es war ein unwirkliches Gefühl. Doch auf die Prüfung war ich diesmal besser vorbereitet. Ich fand es damals ziemlich unbarmherzig von Goldman, uns nur einen Monat später wieder zur Prüfung antreten zu lassen. Das finde ich auch heute noch. Doch realistisch betrachtet half alles nichts. Wir brauchten sie einfach.
Als ich nach meiner letzten Antwort auf die entsprechende
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