Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
der Mercantile Exchange von Chicago und New York wurden Rohstoffe gehandelt. Es war ein guter Tag. Alle hatten mit weit mehr Chaos und mit Panikstimmung gerechnet, doch Amerika demonstrierte, dass es wieder im Geschäft war. Das erfüllte mich mit Genugtuung.
Ich war auch stolz darauf, wie Goldman Sachs rund um die Uhr gearbeitet hatte, um zu gewährleisten, dass unsere Technik funktionierte und unser Betrieb lief und dass unsere Kunden ungehindert handeln konnten. Goldman hatte auch maßgeblich dazu beigetragen, dass die NYSE so schnell wieder öffnen konnte – keine Woche nach den schlimmsten Terroranschlägen, die je auf amerikanischem Boden stattgefunden hatten.
Zwei Wochen nach den Anschlägen zogen wir endlich wieder in unsere Wohnung zurück. Nur vier Blocks südlich rauchten noch immer die Trümmer des World Trade Center. Hartnäckiger Brandgeruch hing in der Luft. Es war ein Gestank, wie ihn keiner von uns zuvor jemals gerochen hatte – eine Mischung aus versengtem Stahl, verschmortem Kunststoff und verbranntem Fleisch. Einfach furchtbar. Bautrupps mit Kränen und schwerem Gerät arbeiteten Tag und Nacht, um das Gelände zu räumen. Der Schutt wurde auf Frachtkähne verladen, die auf dem nahen Hudson lagen – gleich vor unserer Haustür. Monatelang wurde rund um die Uhr gearbeitet. Der Lärm setzte nie aus.
Es war nicht leicht, in dieser Umgebung zu leben. Wir dachten an einen Umzug. Ich fragte mich immer wieder: «Warum sind wir bloß nicht gleich weggezogen?» Doch unsere Welt war auf den Kopf gestellt worden. Wir hatten gerade an der Wall Street angefangen und wollten einfach weitermachen, so gut es ging.
Die ersten Wochen zurück am Arbeitsplatz waren in verschiedener Hinsicht schwierig. Zum einen standen alle unter Schock. Zum anderen hatte sich die nach der Technologieblase und vor dem 11. September ohnehin schon heikle Lage noch deutlich verschlimmert. Die Märkte setzten zum Sturzflug an. Die Kunden bekamen Angst. Die Schwellenmärkte – für die mein Team zuständig war – reagierten nervös. Die Börsen straften uns ab. Unser Bereich war der, für den alle eine Rezession befürchteten.
Obendrein mussten wir einen Monat später noch einmal zur «Series 7»-Prüfung antreten. Der 11. September hatte deutlich gemacht, was im Leben wirklich wichtig war. Eine Stimme in mir sagte: «Das ist doch nur ein lächerlicher Test.» Doch wenn ich meine Karriere richtig – oder überhaupt – in Gang bringen wollte, musste ich ihn bestehen, so war es nun einmal. Ich konnte schließlich nicht auf Dauer Kaffeebestellungen aufnehmen und Fotokopien machen. Gleichzeitig fiel es mir unendlich schwer, mich wieder in meine Bücher zu vertiefen. In der Stadt – und auch in der Firma – griff nach den Anschlägen die Paranoia um sich. Stand ein weiterer Terrorakt bevor? Eine Kollegin kam nach dem 11. September gar nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zurück. Sie setzte keinen Fuß mehr ins Büro. Wir befanden uns einfach viel zu nah an den qualmenden Trümmern, zu nah am Trauma.
Viele waren mit den Nerven am Ende. Gleichzeitig war es berührend, wie alle dennoch zusammenhielten und sich gegenseitig unterstützten – und auch unsere Kunden. Über allem stand die Botschaft: «Jetzt zeigt sich, dass wir anders sind. Das macht Goldman Sachs aus. Kümmern wir uns besonders intensiv um unsere Kunden. Helfen wir ihnen, wieder auf die Füße zu kommen – auch wenn wir nicht unmittelbar davon profitieren. Denn das werden sie sich merken.»
Diese Botschaft entsprach der altehrwürdigen Goldman-Sachs-Tradition. Und wir konnten sie so überzeugend vertreten, weil die alte Garde noch immer präsent war. Viele Managing Partners aus der Zeit vor dem Börsengang waren noch in Amt und Würden. Hank Paulson war erst vor kurzem alleiniger CEO geworden. Es war noch nicht lange her, dass er Jon Corzine aus dem Amt gedrängt hatte. (Corzine, der die Entscheidung für den Börsengang der Firma wortgewaltig befürwortet hatte, wurde später Gouverneur von New Jersey, US-Senator und dann CEO von MF Global, einem Futures-Maklerhaus, das pleiteging nach der Veruntreuung von Kundengeldern in dreistelliger Millionenhöhe.) Paulsons Brief an die Aktionäre im Geschäftsbericht 2001, der kurz nach dem 11. September veröffentlicht wurde, betonte wieder zentrale Unternehmenswerte wie Integrität und Engagement für die Kunden. Die Firma richtete sogar einen Hilfsfonds für Menschen und Organisationen ein, die durch die Anschläge Verluste
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