Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
in der Morgensonne. Sie reichten von der 34. Straße bis nach Lower Manhattan. An Tischen saßen Mitarbeiter, die Ausweise prüften. Wer am Test teilnehmen wollte, musste sich mit zwei Dokumenten ausweisen können. Ich hatte meinen südafrikanischen Reisepass dabei und meinen kalifornischen Führerschein. Wir mussten eine eidesstaatliche Erklärung unterzeichnen, dass wir auch wirklich wir selber waren, dann wurden wir eingetragen und erhielten ein nummeriertes Schloss mit Schlüssel. Wir mussten unsere Taschen ausleeren und den Inhalt in den uns zugewiesenen Spind sperren. Im Prüfungsraum durften wir nicht einmal eine Uhr tragen oder einen Stift dabeihaben. Das alles war nicht dazu angetan, meine Nerven zu beruhigen.
Dann führten die Prüfungsbetreuer im Testing Center jeden Kandidaten einzeln zu einem Rechner in dem fensterlosen Prüfungsraum. «Series 7» dauerte sechs Stunden und umfasste zweihundertfünfzig Fragen im Multiple-Choice-Verfahren, die in zwei dreistündigen Sitzungen mit einer kurzen Mittagspause dazwischen zu bearbeiten waren. Sie werden auf dem Bildschirm gestellt statt in Papierform. Der Vor-oder auch Nachteil dieses Verfahrens war, dass nach Beendigung der Prüfung unmittelbar das Ergebnis angezeigt wurde. (Der Computer brauchte quälende fünf Sekunden, um die erreichte Punktzahl auszurechnen.) Wir bekamen sogar Ohrstöpsel, die wir auf Wunsch verwenden durften (wollte ich nicht), zwei Bleistifte im Härtegrad 2 und Schmierpapier zum Rechnen. Miteinander zu sprechen wurde uns ausdrücklich untersagt. Wer aufs Klo musste, musste sich abmelden und bei der Rückkehr wieder anmelden …
Dann begann mit ein paar Mausklicks die «General Securities Representative Qualification Examination (Series 7)».
Etwa eine Stunde später, wir steckten gerade mitten in den Multiple-Choice-Fragen, erklang aus der Sprechanlage des Raums eine Stimme. Ein Mann sagte ruhig: «Bleiben Sie bitte alle an Ihrem Platz. Das Gebäude wird nicht evakuiert.»
Was war das denn – Feueralarm? Weitere Meldungen kamen nicht. Komisch, dachte ich. Doch dann konzentrierte ich mich wieder auf die Prüfung. Zehn Minuten später meldete sich der Mann noch einmal, diesmal mit einer etwas klareren Ansage: «Bitte verlassen Sie nicht das Gebäude. Wir warten auf Nachricht aus dem Bürgermeisteramt.» Wieder fragte ich mich, ob das eine Übung war, doch auch diesmal kamen keine weiteren Durchsagen.
Zehn Minuten später sagte dieselbe Stimme aus dem Lautsprecher: «Wir warten auf Nachricht von der New Yorker Polizei und dem Bürgermeisteramt. Bitte bleiben Sie ruhig.» Wir sahen uns verwundert an. Da stürzte plötzlich eine weinende Frau ins Zimmer und schrie aus Leibeskräften: «Wir müssen hier alle raus, raus, raus! Jetzt gleich!»
Es war die Prüfungsbetreuerin, die vor dem Zimmer gesessen hatte und bei der sich jeder ab-und wieder anmelden musste, der zur Toilette ging. Wir waren alle schockiert. Niemand wusste, was los war. Wir hatten uns auf sechs Stunden Prüfung eingestellt. «Was wird aus der Prüfung? Läuft die Uhr weiter?» Abgesehen von der Verwirrung empfand ich sogar eine gewisse Erleichterung. Die Prüfung war nach meinem Gefühl gar nicht gut gelaufen. Wir gingen in den Wartebereich des sechzehnten Stocks hinaus, wo die Prüfungsbetreuer Leute in die Aufzüge winkten. Was zum Teufel war da los?
Da sah ich, wie sich viele an den raumhohen Fenstern drängten, murmelten und gestikulierten. Ich ging zu ihnen.
Ganz im Süden über dem rechten Turm des World Trade Center, dem North Tower, quoll im Sonnenlicht Rauch in den klaren Morgenhimmel. Keiner wusste, was passiert war. Es war ein verstörender, unwirklicher Anblick.
Eine Gruppe von uns drängte sich in einen Aufzug, und wir fuhren hinunter.
Draußen auf der 33. Straße war es warm. Noch strahlte die Sonne. Der Verkehr floss. Die Infrastruktur der Stadt funktionierte offenbar. Doch irgendetwas stimmte nicht. Die Menschen blieben in Gruppen auf dem Fußweg stehen und unterhielten sich. Um ein parkendes Auto, aus dem bei offenen Fenstern das Radio plärrte, hatte sich eine Menschentraube gebildet. Ein Sprecher sagte etwas von einem Flugzeug, das ins World Trade Center gestürzt sei. Keiner wusste Genaueres. Alle spekulierten. Ein Unfall? Ein Terroranschlag?
Eins war mir klar: In meine Wohnung konnte ich nicht zurück, denn sie lag nur ein paar Blocks von den Zwillingstürmen entfernt. Also gesellte ich mich zu Kris Ekelund und mehreren anderen
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