Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
Flip-Flops und anderen Schnickschnack mit GS-Logo. Die Technologieblase, die den Handelssaal noch im Vorsommer zum Kochen gebracht hatte, war Anfang 2001 geplatzt. Unternehmen, die eben noch milliardenschwer gewesen waren, wurden jetzt für ein paar Cent auf den Dollar gehandelt. Die Wirtschaft rutschte in die erste Rezession des 21. Jahrhunderts. In der Abteilung New Markets Sales waren drei Teammitglieder entlassen worden – sechzig Prozent der Belegschaft. Außer Rudy war nur noch eine Mitarbeiterin übrig: eine ziemlich aggressive Slowakin. Sie war wie ich Junior Analyst, aber ein Jahr älter. Ihr Englisch war mittelmäßig, und sie sprach sehr schnell und sehr laut. Vielleicht dachte sie, dass man sie dann besser verstehen würde. Rudy hatte sie nicht eingestellt, konnte sie aber vorerst auch nicht loswerden. Sie hatte ihre «Series 7»-Prüfung bereits bestanden und versuchte, mir das eine oder andere beizubringen, hielt mich ansonsten aber auf Distanz. Wenn ich um 5 : 30 Uhr zur Arbeit kam, war sie schon um 5 : 29 Uhr da. Da ich nicht einmal ans Telefon gehen durfte, musste sie sich keine großen Sorgen machen.
Rudy hätte meinen vollen Einsatz gebraucht. Doch da es mir gesetzlich untersagt war, auch nur mit Kunden zu sprechen, geschweige denn Transaktionen auszuführen, musste ich erst meine «Series 7»-Prüfung bestehen – und auch die «Series 63»-Prüfung, eine zwar kürzere, doch in Wirklichkeit schwerere aufsichtsbehördliche Prüfung. Dafür musste ich enorm viel auswendig lernen.
Mein Team brauchte mich am Schreibtisch. Die Firma wollte, dass ich mich im Unterricht mit behördlichen Bestimmungen für Kommunalobligationen zur Vorbereitung auf die «Series 7»-Prüfung befasste. Und dann war da noch der Umstand, dass andere Investmentbanken ihren Kandidaten ein oder zwei Anläufe zugestanden, um die Prüfung zu bestehen. Bei Goldman wird aber vorausgesetzt, dass das beim ersten Mal klappt. Sobald die Testergebnisse bekannt sind, werden sie im ganzen Unternehmen publik. Im Handelssaal laufen sogar halbernste Wetten darauf, wie die verschiedenen Trainees abschneiden. Bei einer solchen Prüfung durchzufallen ist eine äußerst demütigende Erfahrung. Der Druck auf einen Wall-Street-Neuling ist entsprechend hoch.
Zur Vorbereitung auf die Prüfung erhielten wir eine Woche Blockunterricht, in dem uns von neun bis siebzehn Uhr knochentrockener Stoff vermittelt wurde: Welche Gesetze regeln den Verkauf von Unternehmensanleihen an eine Pensionskasse? Welche Voraussetzungen gelten für die Eröffnung eines neuen Handelskontos für einen Investmentfonds? Der Investment Company Act von 1940 – was ist darunter zu verstehen? Wann wurde die US-amerikanische Börsenaufsichtsbehörde SEC gegründet? Es gab nur wenige praktische Themen wie die Methoden zur Berechnung von Hedging-Kosten. An der Wall Street wurde gelästert, das allermeiste davon würden wir bis zum Ende unserer Laufbahn nie wieder brauchen. Trotzdem mussten wir alles auswendig können. Wir mussten die Prüfung bestehen, damit der aufsichtsbehördlichen Vorschrift Genüge getan war. Es war eine Quälerei. Man brauchte literweise Kaffee, um sich wach zu halten. Wenn ich jetzt, zwölf Jahre später, darüber schreibe, erinnere ich mich buchstäblich an keine konkreten Fakten mehr, die in der Prüfung abgefragt wurden.
Damals ging ich mit meinem Sony-CD-Walkman auf die Dachterrasse im zweiundvierzigsten Stock unseres Wohnhauses, setzte mich in dem kleinen Clubhaus an einen Tisch, hörte Sinatra Reprise: The Very Good Years und bläute mir fünf, sechs Stunden am Stück Wertpapiervorschriften ein. Ich stellte den Player auf «Repeat» und ließ die CD immer wieder laufen – das hat mir oft geholfen, einen Lernrhythmus zu finden. «Summer Wind» und «It Was A Very Good Year» muss ich an die tausendmal gehört haben. Trotzdem mag ich beide Songs noch heute. Für mich sind sie untrennbar mit der «Series 7»-Prüfung und meiner ersten Zeit in New York verbunden.
Es war eine wirkliche Tortur. Immer wieder machte ich den Übungstest für die Prüfung und schnitt nicht besonders glorreich ab. Das machte mir Angst. Wer in die Prüfung ging, sollte so knapp wie möglich über der 70-Punkte-Grenze fürs Bestehen liegen. Das ist eine Frage des persönlichen Stolzes. Wer zu gut abschneidet, hat zu viel gelernt. Knapp über 70 ist perfekt. Ein Ergebnis von 69, die höchstmögliche Punktzahl, um durchzufallen, ist dagegen ziemlich peinlich.
Währenddessen
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