Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)

Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)

Titel: Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Smith
Vom Netzwerk:
Straßen im East Village. Sie waren leergefegt wie in einem postapokalyptischen Science-Fiction-Film. New York kam mir vor wie eine Geisterstadt.
    Am selben Vormittag erhielt ich jedoch einen ebenso überraschenden wie willkommenen Anruf von einem Personalsachbearbeiter der Londoner Goldman-Sachs-Niederlassung. Er sagte: «Wir wissen, dass Ihre Wohnung nur ein paar Straßen vom World Trade Center entfernt liegt. Wir haben uns um die Notfallversorgung gekümmert. Sie bekommen erstens 2000 Dollar, um Kleidung und alles Nötige zu kaufen. Zweitens hat die Firma Hotelzimmer in der ganzen Stadt gebucht, die wir Ihnen in den nächsten Tagen zur Verfügung stellen können. Und drittens werden wir Ihnen Bescheid sagen, wann die Märkte wieder öffnen.»
    Diese Nachricht löste viele Probleme, denn ich konnte nicht in meine Wohnung, mein Bargeld wurde knapp, und ich wusste nicht, woher ich Kleidung fürs Büro nehmen sollte. Ich hatte weder Hemden noch Unterwäsche – noch nicht einmal eine Zahnbürste. Das war sicher nicht dramatisch, doch für mich persönlich bedeutete es eine große Erleichterung, dass ich mich bald wieder wie ein richtiger Mensch fühlen durfte.
    Ich legte auf und schüttelte verwundert und dankbar den Kopf. Stunden nach dem Anschlag hatte das Londoner Büro die Initiative ergriffen, festgestellt, wo ich wohnte, mich aufgespürt und mir Hilfe angeboten. Das war Goldman Sachs von seiner besten Seite. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass Goldman Sachs wirklich der Goldstandard war, wenn es um Effizienz, Ausführung und Organisation ging. Dort arbeiteten die klügsten, findigsten Leute. Da kam keine andere Bank an der Wall Street heran.
    Es war seltsam, in dieser aufwühlenden Situation an sachliche Themen wie die Wiedereröffnung des Marktes zu denken. Trotzdem war es wichtig. Bürgermeister Giuliani hatte das erkannt. Osama Bin Laden hatte Amerikas Finanzzentrum attackiert, nur ein paar Blocks von der New York Stock Exchange entfernt, dem globalen Symbol des Kapitalismus schlechthin. Wenn die Märkte zügig, effizient und geordnet wieder eröffnet werden konnten, wäre das die beste Möglichkeit zurückzuschlagen, New York und Amerika wieder auf die Beine zu bringen und unsere kollektive Unbeugsamkeit unter Beweis zu stellen.
    Ich weiß noch, dass ich zu meinem Freund Kris sagte: «Die Welt hat sich für immer verändert. Ich wünschte, es könnte alles wieder so sein wie gestern morgen.» Es war, als wären wir aus einem schönen Traum gerissen worden und in einem Albtraum erwacht. Und wir konnten nichts dagegen tun. «Ich wünschte, die Zeit verginge schneller», dachte ich und: «Wann wird mir die Welt wohl wieder normal vorkommen?»
    Es sollte lange dauern.
     
    Mein erster Arbeitstag nach dem Anschlag war Montag, der 17. September 2001. Weil ich immer noch nicht in meine Wohnung zurückdurfte, hatte ich ein paar Tage lang bei Kris kampiert, dann eine Nacht in einem von Goldman gebuchten Hotel verbracht (The Beekman, Ecke 49. Straße und First Avenue), und schließlich war ich zu einem anderen Freund gezogen, der jenseits des Hudson River in Jersey City wohnte. Ich hätte auch länger im Beekman bleiben können, doch Goldman hatte beim Verzicht auf das Hotel eine weitere Barabfindung angeboten, und auf meinem Konto waren keine 7500 Dollar mehr. Da mir klar war, dass schwere Zeiten bevorstanden, nahm ich das Geld.
    An jenem Morgen saß ich noch vor 5 : 30 Uhr im PATH-Zug aus Jersey City. Mit dem Geld von Goldman Sachs hatte ich mir bei Banana Republic neue Sachen gekauft, aber ich war unrasiert und übermüdet. Nach allem, was sich ereignet hatte, war es ein eigenartiges Gefühl, zur Arbeit zu fahren. In der Firma angekommen, rief ich meinen Freund Mark Mulroney an und bat ihn, sich den elektrischen Rasierapparat, den ich in meinem Schreibtisch aufbewahrte, zu schnappen und sich mit mir auf einer anderen Etage zu treffen. Am ersten Tag nach meiner Rückkehr wollte ich respektabel aussehen.
    An diesem 17. September erlebten die Märkte einen der schlimmsten Tage in ihrer Geschichte. Der S&P 500 (der von Wall-Street-Investoren am häufigsten herangezogene Referenzindex Standard&Poor’s) verlor fünf Prozent, und der Dow sackte um sieben Prozent ab. Seltsamerweise fühlte sich das aber gar nicht nach Panik oder Crash an. Die Investoren waren sogar hochzufrieden damit, wie geregelt die Märkte funktionierten. Die NYSE und die NASDAQ eröffneten reibungslos, die Rentenmärkte arbeiteten, und in den Pits

Weitere Kostenlose Bücher