Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Frauen aber schrien: »Reihen Sie sich ein! Das ist kein Umzug für Filmstars!«
Die Schauspielerin ließ sich nicht einschüchtern und lief weiter nach vorn, gefolgt von fünf Fotografen und zwei Kameramännern.
Da packte eine französische Linguistin die Schauspielerin am Handgelenk und sagte (in grauenhaftem Englisch) zu ihr: »Das hier ist ein Zug von Ärzten, die todkranke Kambodschaner retten wollen, und kein Spektakel für Filmstars!«
Das Handgelenk der Schauspielerin lag fest in der Hand der Linguistikprofessorin, und sie hatte nicht die Kraft, sich ihrem Griff zu entwinden.
Sie sagte (in hervorragendem Englisch): »Leck mich! Ich habe schon Hunderte solcher Umzüge mitgemacht! Überall müssen Stars zu sehen sein! Das ist unsere Arbeit! Unsere moralische Verpflichtung!«
»Scheiße«, sagte die Linguistikprofessorin (in hervorragendem Französisch).
Die amerikanische Filmdiva verstand sie und brach in Tränen aus.
»Bleib so!« schrie ein Kameramann und kniete vor ihr nieder. Die Diva schaute lange ins Objektiv; Tränen kullerten über ihre Wangen.
19.
Die Linguistikprofessorin ließ das Handgelenk der Filmdiva endlich los. In diesem Moment rief der deutsche Sänger mit dem schwarzen Bart und der weißen Fahne den
Namen der Schauspielerin.
Die amerikanische Filmdiva hatte zwar noch nie von ihm gehört, war aber in diesem Augenblick der Demütigung empfänglicher als sonst für Sympathiebezeugungen und lief zu ihm. Der Sänger nahm die Fahnenstange in die rechte Hand und legte die linke auf die Schulter der Diva.
Wieder hüpften Fotografen und Kameraleute um die Diva und den Sänger herum. Ein berühmter amerikanischer Fotograf wollte die beiden Gesichter samt der Fahne in seinem Objektiv sehen, was schwierig war, denn die Stange war lang. So lief er rückwärts in ein Reisfeld. Dabei trat er auf eine Mine. Eine Explosion war zu hören: sein zerfetzter Körper flog durch die Luft und besprengte die internationale Intelligentsia mit einem Blutregen.
Der Sänger und die Filmdiva waren entsetzt und blieben wie angewurzelt stehen. Sie hoben die Augen zur Fahne empor. Sie war blutbespritzt. Wieder waren sie entsetzt. Sie schauten noch einige Male zaghaft nach oben und fingen dann an zu lächeln. Ein seltsamer, bisher noch nicht gekannter Stolz erfüllte sie, weil die Fahne, die sie trugen, mit Blut geweiht war. Und sie marschierten weiter.
20.
Die Grenze wurde von einem kleinen Fluß gebildet, den man aber nicht sehen konnte, weil entlang seinem Ufer eine endlose, anderthalb Meter hohe Mauer errichtet worden war, auf der Sandsäcke für die thailändischen
Schützen lagen. Nur an einer einzigen Stelle war die Mauer durchbrochen. Dort wölbte sich eine Brücke über den Fluß. Es war verboten, sie zu betreten. Auf der anderen Seite standen die vietnamesischen Besatzungstruppen, die man aber nicht sehen konnte.
Ihre Stellungen waren perfekt getarnt. Es war jedoch sicher, daß die unsichtbaren Vietnamesen das Feuer eröffnen würden, sobald jemand seinen Fuß auf die Brücke setzte.
Die Teilnehmer des Zuges gingen auf die Mauer zu und stellten sich auf die Zehenspitzen. Franz lehnte sich in eine Lücke zwischen zwei Säcken und versuchte, etwas zu sehen.
Er sah aber nichts, weil er von einem Fotografen, der sich berechtigt fühlte, seinen Platz einzunehmen, weggestoßen wurde.
Franz sah sich um. In der mächtigen Krone eines einsamen Baumes saßen wie ein Schwarm riesiger Raben sieben Fotografen, die Augen auf das andere Ufer gerichtet.
In diesem Moment legte die Dolmetscherin, die an der Spitze des Zuges marschiert war, einen Schalltrichter an den Mund und rief in der Khmersprache zur anderen Flußseite: »Hier sind Ärzte, die die Erlaubnis haben wollen, kambodschanisches Gebiet zu betreten, um ärztliche Hilfe zu leisten. Ihre Aktion hat nichts mit politischer Einmischung zu tun; sie kommen aus Sorge um das menschliche Leben.«
Die Antwort von der anderen Seite war ein unheimliches Schweigen. Ein so absolutes Schweigen, daß alle von der Angst gepackt wurden. In dieser Stille hörte man nur das Klicken der Fotoapparate wie das Zirpen eines exotischen Insekts.
Franz hat plötzlich das Gefühl, der Große Marsch sei zu Ende. Um Europa herum zieht sich die Grenze des Schweigens zusammen, und der Raum, in dem der Große Marsch stattfindet, ist nichts als ein winziges Podium inmitten des Planeten. Die Massen, die sich einst um das Podium scharten, haben ihr Gesicht längst abgewandt, und der
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