Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Große Marsch geht weiter, in der Einsamkeit und ohne Zuschauer. Ja, sagt sich Franz, der Große Marsch geht weiter, obwohl die Welt sich nicht mehr für ihn interessiert, aber er ist unruhig und hektisch geworden, gestern gegen die amerikanische Besetzung Vietnams, heute gegen die vietnamesische Besetzung Kambodschas, gestern für Israel, heute für die Palästinenser, gestern für Kuba, morgen gegen Kuba, und immer gegen Amerika, zu allen Zeiten gegen die Massaker und zu allen Zeiten für die Unterstützung anderer Massaker, Europa marschiert, und um dem Rhythmus der Ereignisse standzuhalten und ja keines zu versäumen, werden die Schritte immer schneller, so daß der Große Marsch nun ein Marsch von eilig herumspringenden Menschen geworden ist und der Schauplatz immer kleiner wird, bis er eines Tages auf einen Punkt zusammengeschrumpft sein wird.
21.
Die Dolmetscherin schrie ihren Aufruf zum zweiten Mal in den Schalltrichter. Die Antwort war wieder ein endloses und unendlich gleichgültiges Schweigen.
Franz sah sich um. Das Schweigen auf der anderen Seite des Flusses schlug allen ins Gesicht wie eine Ohrfeige.
Sogar der Sänger mit der weißen Fahne und die amerikanische Filmdiva waren bedrückt und verlegen und wußten nicht mehr, was sie tun sollten.
Franz begriff plötzlich, daß sie alle lächerlich waren, er und all die anderen, aber diese Erkenntnis trennte ihn nicht etwa von ihnen, sie erfüllte ihn nicht mit Ironie. Im Gegenteil, gerade jetzt empfand er eine unendliche Liebe für sie, eine Liebe, wie man sie für Verurteilte empfindet. Gewiß, der Lange Marsch ging seinem Ende entgegen, war das aber ein Grund, daß Franz ihn verriet? Ging sein eigenes Leben nicht ebenfalls dem Ende entgegen? Sollte er etwa über den Exhibitionismus derer lachen, die die tapferen Ärzte zur Grenze begleitet hatten? Was konnten all diese Menschen denn anderes tun, als Theater zu spielen? Blieb ihnen eine bessere Möglichkeit?
Franz hat recht. Ich denke an den Redakteur, der in Prag die Unterschriftenaktion für die Amnestie der politischen Gefangenen organisiert hat. Er wußte ganz genau, daß diese Aktion den Gefangenen nicht helfen würde. Das eigentliche Ziel lag nicht in der Befreiung von Gefangenen, sondern darin zu zeigen, daß es noch Menschen gab, die sich nicht fürchteten. Was er tat, war Theater. Aber er hatte keine andere Möglichkeit. Er konnte nicht zwischen Tat und Theater wählen. Er stand vor der Wahl: entweder Theater zu spielen oder gar nichts zu tun. Es gibt Situationen, in denen man zum Theaterspielen verurteilt ist. Der Kampf gegen die schweigende Macht (gegen die schweigende Macht jenseits des Flusses, gegen die Polizei, die sich in schweigende Mikrophone in der Wand verwandelt hat) ist der Kampf einer Theatertruppe, die eine Armee angegriffen hat.
Franz sah, wie sein Freund von der Sorbonne die Faust hob und dem Schweigen auf der anderen Seite drohte.
Die Dolmetscherin schrie ihren Aufruf zum dritten Mal in den Schalltrichter.
Das Schweigen, das ihr abermals antwortete, verwandelte Franz' Angst in wilde Wut. Er stand nicht weit von der Brücke entfernt, die Thailand von Kambodscha trennte, und es überkam ihn große Lust, sich darauf zu stürzen, schreckliche Schimpfwörter zum Himmel zu schreien und im gewaltigen Donner der Geschosse zu sterben.
Diese plötzliche Lust von Franz erinnert uns an etwas; ja, sie erinnert uns an Stalins Sohn, der lief, um sich in den elektrisch geladenen Drähten zu erhängen, weil er nicht mit ansehen konnte, wie die beiden Pole der menschlichen Existenz sich zum Berühren nahe kamen, bis es keinen Unterschied mehr gab zwischen dem Erhabenen und dem Niedrigen, zwischen Engel und Fliege, zwischen Gott und Scheiße.
Franz will nicht wahrhaben, daß der Ruhm des Langen Marsches nichts anderes ist als die lachhafte Eitelkeit derer, die mitmarschieren, daß der grandiose Lärm der europäischen Geschichte in endlosem Schweigen versinkt und es keinen Unterschied mehr gibt zwischen der Geschichte und dem Schweigen. In diesem Moment hätte er sein eigenes Leben auf die Waagschale geworfen, um zu beweisen, daß der Lange Marsch mehr wiegt als die Scheiße.
Doch so etwas läßt sich nicht beweisen. Auf der einen Waagschale lag ein Haufen Scheiße, auf der anderen lag Stalins Sohn mit seinem ganzen Körpergewicht, und die Waage bewegte sich nicht.
Statt sich erschießen zu lassen, ließ Franz den Kopf hängen und ging zusammen mit den anderen im Gänsemarsch zu den
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