Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
bewohnt er eine kleine Wohnung in der Altstadt, und seine junge Freundin übernachtet fast täglich bei ihm. Mit ihr muß er nicht in Hotels irgendwo auf der Welt reisen, sie können sich in der eigenen Wohnung lieben, im eigenen Bett, umgeben von seinen Büchern und mit seinem Aschenbecher auf dem Nachttisch!
Das Mädchen war anspruchslos, nicht besonders schön, aber sie bewunderte Franz, wie Franz noch vor kurzem Sabina bewundert hatte. Das war ihm nicht unangenehm.
Und obwohl er den Tausch von Sabina gegen die Studentin mit der Brille vielleicht als kleinen Abstieg ansehen konnte, sorgte seine Güte doch dafür, daß er die neue Geliebte mit Freuden akzeptierte und eine väterliche Liebe für sie empfand, die er nie hatte ausleben können, weil Marie-Anne sich nicht wie eine Tochter, sondern wie eine zweite Marie- Claude benommen hatte. Eines Tages besuchte er seine Frau und sagte ihr, daß er gern wieder heiraten würde.
Marie-Claude schüttelte den Kopf.
»Aber es ändert doch nichts, wenn wir uns scheiden lassen!
Du verlierst gewiß nichts. Ich lasse dir das ganze Vermögen!«
»Es geht mir nicht um das Vermögen«, sagte sie.
»Worum denn?«
»Um die Liebe.«
»Um die Liebe?« fragte er verwundert.
»Die Liebe ist ein Kampf«, lächelte sie. »Ich werde lange kämpfen. Bis zum Ende.«
»Die Liebe ist ein Kampf? Ich habe aber nicht die geringste Lust zu kämpfen«, sagte Franz und ging.
10.
Nach vier Jahren in Genf ließ Sabina sich in Paris nieder. Sie erholte sich nicht von ihrer Melancholie. Hätte sie jemand gefragt, was ihr zugestoßen sei, sie hätte keine Worte gefunden dafür.
Das Drama eines menschlichen Lebens kann man immer mit der Metapher der Schwere ausdrücken. Man sagt, eine Last ist einem auf die Schultern gefallen. Man vermag sie zu tragen oder auch nicht: man bricht unter ihr zusammen, kämpft gegen sie, verliert oder gewinnt. Was ist Sabina aber wirklich zugestoßen? Nichts. Sie hat einen Mann verlassen, weil sie ihn verlassen wollte. Hat er sie verfolgt? Hat er sich gerächt? Nein. Ihr Drama ist nicht das Drama des Schweren, sondern des Leichten. Auf Sabina ist keine Last gefallen, sondern die unerträgliche Leichtigkeit des Seins.
Bis jetzt haben die Momente des Verrats sie mit Erregung erfüllt und mit Freude darüber, daß ein neuer Weg sich vor ihr auftat, an dessen Ende ein neues Abenteuer des Verrats stand. Was aber wird sein, wenn dieser Weg einmal zu Ende geht? Man kann die Eltern, den Ehemann, die Liebe und die Heimat verraten, wenn es aber keine Eltern, keinen Ehemann, keine Liebe und keine Heimat mehr gibt, was bleibt dann noch zu verraten?
Sabina spürte die Leere um sich herum. Wenn nun aber gerade diese Leere das Ziel all ihres Verrats gewesen ist?
Bis jetzt war sie sich dessen nicht bewußt, und das ist nur verständlich: das Ziel, das man verfolgt, bleibt immer verschleiert. Ein junges Mädchen, das von der Ehe träumt, träumt von etwas, das ihr ganz unbekannt ist. Ein junger Mann, der dem Ruhm nachjagt, weiß nicht, was Ruhm ist.
Was unserem Handeln einen Sinn gibt, ist stets völlig unbekannt. Auch Sabina weiß nicht, welches Ziel sich hinter ihrem Verlangen nach Verrat versteckt. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, ist sie das Ziel? Nach ihrem Wegzug aus Genf ist sie ihr um vieles nähergekommen.
Sie war bereits drei Jahre in Paris, als sie einen Brief aus Böhmen erhielt. Er war von Tomas' Sohn. Er hatte irgendwie von ihr gehört, ihre Adresse ausfindig gemacht und ihr als der »besten Freundin« seines Vaters geschrieben. Er teilte ihr den Tod von Tomas und Teresa mit: Sie hatten die letzten Jahre in einem Dorf verbracht, wo Tomas als Lastwagenfahrer arbeitete. Sie fuhren öfter zusammen in die Nachbarstadt, wo sie in einem bescheidenen Hotel übernachteten. Der Weg war steil und führte über Serpentinen, und ihr Lastwagen war einen Berghang hinabgestürzt. Man fand ihre Körper völlig zermalmt. Später stellte die Polizei fest, daß die Bremsen in einem katastrophalen Zustand gewesen waren.
Sie konnte sich kaum von dieser Nachricht erholen. Der letzte Faden, der sie mit der Vergangenheit verbunden hatte, war gerissen.
Nach alter Gewohnheit wollte sie sich durch einen Spaziergang auf dem Friedhof beruhigen. Der Friedhof von Montparnasse lag am nächsten. Auf den Gräbern standen winzige Häuser, Miniaturkapellen. Sabina verstand nicht, warum die Toten solche Palastimitationen über sich haben wollten. Dieser Friedhof war die zu Stein
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