Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Haschisch zu finden oder zu beweisen, daß wir ein zwölfjähriges Mädchen mißbraucht haben. Es läßt sich immer ein Mädchen finden, das dies bezeugt.«
Wieder kam ihr der Ingenieur in den Sinn. Warum nur war er nicht mehr gekommen?
Der Botschafter fuhr fort: »Sie müssen die Leute in eine Falle locken, um sie für ihre Dienste zu gewinnen und mit ihrer Hilfe wieder Fallen für andere Leute zu stellen. So machen sie nach und nach aus dem ganzen Volk eine Einheitsorganisation von Spitzeln.«
Teresa dachte an nichts anderes mehr, als daß der Ingenieur von der Polizei auf sie angesetzt worden war. Und wer war der komische Junge gewesen, der sich in der Kneipe gegenüber betrunken und ihr eine Liebeserklärung gemacht hatte? Seinetwegen hatte der Spitzel mit der Glatze sie angegriffen und der Ingenieur sie verteidigt. Alle drei hatten sie ihre Rolle gespielt in einem abgekarteten Spiel, dessen Ziel es war, ihre Zuneigung zu wecken für den Mann, der die Aufgabe hatte, sie zu verführen.
Weshalb war ihr das nicht früher eingefallen? Mit dieser Wohnung war doch etwas faul, sie paßte überhaupt nicht zu diesem Menschen! Warum sollte dieser elegant gekleidete Ingenieur in einer so ärmlichen Wohnung hausen? War er überhaupt ein Ingenieur? Falls ja, wieso hatte er um zwei Uhr nachmittags frei? Und seit wann lasen Ingenieure Sophokles? Nein, das war nicht die Bibliothek eines Ingenieurs! Der Raum sah eher aus wie die beschlagnahmte Wohnung eines mittellosen Intellektuellen, den man inhaftiert hatte. Als sie zehn Jahre alt war und man ihren Vater verhaftete, wurde ebenfalls die Wohnung mit der ganzen Bibliothek beschlagnahmt. Wer weiß, wozu sie dann gedient hat.
Nun ist auch klar, warum der Ingenieur nicht wiedergekommen ist. Er hat seine Mission erfüllt. Welche? Der betrunkene Spitzel hat es ihr wider Willen verraten, als er sagte: »Merken Sie sich, bei uns ist die Prostitution verboten!«
Dieser vermeintliche Ingenieur wird aussagen, daß sie mit ihm geschlafen und dafür Geld verlangt habe! Er wird ihr mit einem Skandal drohen und sie erpressen, damit sie die Leute denunziert, die sich an ihrer Bar betrinken.
»Ihre Geschichte ist nicht im geringsten gefährlich«, versuchte der Botschafter sie zu beruhigen.
»Schon möglich«, antwortete sie mit erstickter Stimme und ging mit Karenin hinaus auf die nächtlichen Straßen von Prag.
25.
Die meisten Menschen flüchten in die Zukunft, um ihrem Leiden zu entgehen. Sie stellen sich vor, daß es auf der Bahn der Zeit eine Linie gibt, jenseits derer das momentane Leiden aufhören wird. Doch Teresa sah keine solche Linie vor sich.
Nur der Blick zurück konnte ihr Trost spenden. Es war wieder einmal Sonntag. Sie setzten sich ins Auto, um aus Prag wegzufahren.
Tomas saß am Steuer, Teresa neben ihm und Karenin hinten; er streckte von Zeit zu Zeit seinen Kopf nach vorn, um ihre Ohren zu lecken. Nach zwei Stunden Fahrt gelangten sie in einen kleinen Kurort, wo sie vor etwa sechs Jahren ein paar Tage zusammen verbracht hatten. Sie wollten dort übernachten.
Sie parkten auf dem Marktplatz und stiegen aus. Nichts hatte sich verändert. Gegenüber stand das Hotel, in dem sie damals gewohnt hatten, davor immer noch die alte Linde.
Links erstreckte sich die alte Holzkolonnade, an deren Ende eine Quelle in ein Marmorbecken sprudelte. Damals wie heute beugten sich Menschen mit Trinkgläsern in der Hand darüber.
Tomas wies auf das Hotel. Etwas hatte sich doch verändert. Früher war es das Grand Hotel, und nun hieß es, der Aufschrift zufolge, Bajkal. Sie blickten auf das Schild an der Hausecke: Moskauer Platz. Sie schritten alle Straßen ab, die sie kannten (Karenin folgte allein, ohne Leine) und schauten nach den Namen: es gab eine Stalingradstraße, eine Leningradstraße, eine Rostowstraße, eine Nowosibirskstraße, eine Kiewstraße und eine Odessastraße, es gab ein Kurhaus Tschaikowski, ein Kurhaus Tolstoi und ein Kurhaus Rimski-Korsakow, es gab ein Hotel Suworow, ein Gorki-Kino und ein Café Puschkin. Alle Namen waren der Geographie und der Geschichte Rußlands entnommen.
Teresa dachte an die ersten Tage der Invasion zurück. In allen Städten hatte man die Straßenschilder und die Wegweiser mit den Namen der Städte abgerissen. Über Nacht war das Land namenlos geworden. Sieben Tage lang irrte die russische Armee umher, ohne zu wissen, wo sie war. Die Offiziere suchten die Gebäude von Redaktionen, Rundfunk und Fernsehen, um sie zu besetzen, doch konnten sie
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