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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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berührte.
    Sie wollte nicht studiert werden. Sie wollte ihn in den Strom der Verzückung hineinreißen, dem man sich nur mit geschlossenen Augen hingeben kann. Aus diesem Grund weigerte sie sich, auf die Knie zu gehen, denn in dieser Position berührten sich ihre Körper nicht, und er konnte sie aus einem Abstand von einem halben Meter beobachten. Sie haßte diesen Abstand. Sie wollte in ihm zerfließen. So behauptete sie beharrlich, sie hätte keine Lust dabei verspürt, obwohl der ganze Teppich naß war von ihrem Orgasmus: »Ich suche nicht die Lust«, sagte sie, »ich suche das Glück, und Lust ohne Glück ist keine Lust.« Mit anderen Worten, sie pochte an das Tor seines poetischen Gedächtnisses. Doch das Tor blieb geschlossen. Im poetischen Gedächtnis gab es für sie keinen Platz. Einen Platz für sie gab es nur auf dem Teppich.
    Sein Abenteuer mit Teresa hatte genau dort angefangen, wo die Abenteuer mit den anderen Frauen aufhörten. Es spielte sich auf der anderen Seite des Imperativs ab, der ihn hinter den Frauen her jagen ließ. An Teresa wollte er nichts enthüllen. Er hatte sie schon enthüllt bekommen. Er hatte mit ihr geschlafen, noch bevor er Zeit fand, sein imaginäres Skalpell zur Hand zu nehmen, mit dem er den vor sich liegenden Körper der Welt öffnete. Noch bevor er Zeit fand, sich zu fragen, wie sie während der Liebe sein würde, liebte er sie schon.
    Ihre Liebesgeschichte begann erst danach: sie bekam Fieber, und er konnte sie nicht nach Hause schicken wie die anderen Frauen. Er kniete an ihrem Bett, und es fiel ihm ein, daß jemand sie in ein Körbchen gelegt und auf dem Wasser ausgesetzt hatte. Ich habe schon gesagt, daß Metaphern gefährlich sind. Die Liebe beginnt mit einer Metapher. Anders gesagt: Die Liebe beginnt in dem Moment, da eine Frau sich mit ihrem ersten Wort in unser poetisches Gedächtnis einprägt.
    13.
    Gerade vor einigen Tagen hatte sie sich wieder in sein Denken eingeprägt: wie immer kam sie morgens mit der Milch nach Hause, und als er ihr öffnete, hielt sie in ihrem roten Schal eine Krähe an ihre Brust gepreßt. Zigeunerinnen trugen ihre Kinder so in den Armen. Er würde es nie vergessen: ein riesiger, anklagender Krähenschnabel neben ihrem Gesicht.
    Sie hatte den Vogel in der Erde vergraben gefunden. So waren einst die Kosaken mit ihren gefangengenommenen Feinden verfahren. »Das haben Kinder gemacht«, sagte sie, und in diesem Satz lag nicht nur eine Feststellung, sondern ein plötzlicher Abscheu vor den Menschen. Er erinnerte sich, wie sie ihm kürzlich gesagt hatte: »Ich bin dir langsam dankbar, daß du nie Kinder haben wolltest.«
    Gestern hatte sie sich beklagt, daß ein Typ sie in der Bar belästigt habe. Er habe mit der Hand nach ihrer billigen Halskette gegriffen und behauptet, sie hätte den Schmuck durch Prostitution verdient. Sie war darüber sehr aufgebracht gewesen, mehr als notwendig, dachte Tomas. Auf einmal war er entsetzt darüber, wie wenig er sie in den letzten Jahren gesehen, wie selten er die Gelegenheit hatte, ihre Hände lange in den seinen zu halten, damit sie zu zittern aufhörten.
    Mit diesen Gedanken ging er frühmorgens ins Büro, wo eine Angestellte den Putzern die Tagesarbeit zuteilte. Eine Privatperson hatte ausdrücklich verlangt, daß Tomas ihre Fenster putzte. Er ging ungern zu dieser Adresse, er befürchtete, es hätte ihn wieder eine Frau zu sich bestellt. In Gedanken war er bei Teresa und hatte keine Lust auf Abenteuer.
    Als sich die Tür öffnete, atmete er auf. Vor ihm stand ein Mann von hoher, leicht gebeugter Gestalt. Er hatte ein großes Kinn und erinnerte ihn an jemanden.
    Er lächelte: »Treten Sie ein, Herr Doktor«, und führte ihn in ein Zimmer.
    Dort stand ein junger Mann. Er war rot im Gesicht, sah Tomas an und versuchte zu lächeln.
    »Ich glaube, ich brauche sie einander nicht vorzustellen«, sagte der Mann.
    »Nein«, sagte Tomas, ohne zu lächeln, und reichte dem jungen Mann die Hand. Es war sein Sohn.
    Dann erst stellte sich der Mann mit dem großen Kinn vor.
    »Ich wußte doch, daß Sie mich an jemanden erinnern!« sagte Tomas. »Wie auch nicht! Natürlich kenne ich Sie. Dem Namen nach.«
    Sie setzten sich in die Sessel, zwischen denen ein niedriger Tisch stand. Tomas dachte daran, daß diese beiden Männer ihm gegenüber unfreiwillig seine Geschöpfe waren. Den Sohn zu produzieren hatte seine erste Frau ihn gezwungen, die Züge des hochgewachsenen Mannes zu beschreiben hatte der Polizist ihn genötigt, der

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