Die Ungehorsame Historischer Roman
der Geruch von Weihrauch und verlöschten Kerzen hing noch in der Luft. Licht spendete ihnen jetzt nur noch die Kerze, die sie selbst mitgebracht hatten.
»Ich möchte mir die Schlange ansehen!«, sagte Lennard und machte Anstalten, in den Raum zu kriechen.
»Nein, nicht. Bitte. Ich habe Angst. Wenn sie zurückkommen!«
»Heulsuse!«
»Ich heule nicht. Aber die wollten die Katze umbringen, Lennard. Die hatten ein langes Messer!« Ursel schauderte. Und so richtig mutig fühlte ihr Bruder sich auch nicht mehr. Als sie ihn an seinem Jackenärmel zurückzerrte, gab er nach einem mannhaften Zögern doch ganz gerne nach.
Noch lange aber redeten die beiden über das Gesehene, und als sie endlich einschliefen, war es fast Morgen.
Sie entwischten den Bierkutschern nur knapp und fanden sich, hungrig, übernächtigt und ziemlich schmutzig, in einer der Gassen wieder, die zum Rhein führte. Der morgendliche Verkehr drängte sich durch die schmalen Durchlässe, niemand schenkte ihnen besondere Beachtung, zwei schmuddelige Kinder, die sich an die Hauswände drückten, um nicht von einem Fuhrwerk überrollt zu werden. Die jugendlichen Freunde, mit denen sie den gestrigen Nachmittag verbracht hatten, schienen wie vom Erdboden verschluckt zu sein.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Ursel etwas jämmerlich, als sie den Alter Markt erreicht hatten, auf dem die Marktleute ihre Buden öffneten.
Beiden war die Freude an der Freiheit nach der ungemütlichen Nacht doch ziemlich vergangen.
»Zur Schule können wir wohl nicht.«
»Nein.«
»Nach Hause auch nicht.«
»Nein. Schließlich haben wir das Geld gestohlen.«
»Wo sollen wir nur hin?«
»Ich weiß nicht, Lennard. Und ich habe Hunger.«
»Wir haben noch Geld genug. Komm, wir kaufen uns zwei Wecken. Dann denken wir nach.«
Doch dazu kam es nicht. Eine Hand fuhr jeweils in ihren Kragen, und eine männliche Stimme stellte fest: »Die zwei Ausreißer, so, so. Ursel, Lennard, Zeit nach Hause zu gehen!«
Sie zuckten zusammen, und als sie sich umdrehten, erkannten sie die schwarze Uniform des Leutnants von Benningsen. »Man macht sich Sorgen um euch. Also los!«
Ursel versuchte sich halbherzig zu befreien, wurde aber unnachgiebig in Richtung Hohe Straße geschoben. Lennard schien resigniert zu haben und trottet mit hängendem Kopf voran. Bevor ihr Scherge sie aber im Haus ablieferte, hielt er ihnen noch eine kleine Rede.
»Ich nehme an, ihr seid nicht gegen euren Willen entführt worden.«
Stummes Kopfschütteln.
»Ihr habt einen Arbeitsvertrag geschlossen mit Herrn Mansel und seiner Frau, gegen den ihr mutwillig verstoßen habt!«
Genauso stummes Nicken.
»Habt ihr den Wunsch, wieder in der Baumwollspinnerei zu arbeiten?«
Kopfschütteln.
»Dann habt ihr jetzt fünf Minuten Zeit, euch ein paar wohlgesetzte Worte zur Erklärung eueres ausgesucht dummen Verhaltens auszudenken.«
Leonie hatte eine angstvolle Nacht hinter sich. Ihr Gatte war aufs Höchste ungehalten gewesen, als er erfahren hatte, dass die Kinder nicht von der Schule nach Hause gekommen waren. Sie selbst hatte sich auch Sorgen gemacht, durfte sich aber an der Suchaktion nicht beteiligen, die Mansel sofort in die Wege geleitet hatte. Nichtsdestotrotz hatte sie lange aufgesessen und auf seine Rückkehr gewartet. Es hatte sie betroffen gemacht, wie müde und erschöpft er weit nach Mitternacht zurückgekommen war. Aber er hatte kein Wort gesagt, sondern war nur voll angekleidet auf die Chaiselongue gesunken und hatte die Augen geschlossen. Früh am Morgen war er schon wieder fortgegangen, um die Suche weiterzuführen, hatte Jette ihr kühl bestellt.
Jetzt saß sie am Tisch, eine halb geleerte Kaffeetasse neben sich, die Brötchen jedoch unangetastet, und versuchte, sich in die Lektüre der Zeitung zu vertiefen. Es war die Haushälterin, die ihr meldete: »Gnädige Frau, Leutnant von Benningsen hat die Kinder gefunden!«
»Oh, Gott sei Dank. Bitten Sie ihn herein.«
Ernst von Benningsen schob die Zwillinge vor sich her in das Frühstückszimmer und begrüßte Leonie mit ein wenig gequälter Munterkeit.
»Hier ist Ihre pflichtvergessene Dienerschaft. Sie trieben sich auf dem Alter Markt herum, vermutlich, um etwas von den Ständen zu stibitzen.«
»Nein, so war das nicht«, murmelte Lennard leise.
Leonie verspürte einen Anflug von Mitleid, als sie die beiden so schuldbewusst vor sich sah. Eine Strafpredigt lag ihr zwar auf der Zunge, aber sie schluckte sie hinunter. Darum mochte sich ihr
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