Die Ungehorsame Historischer Roman
transparenter Gaze. Man kann ganz gut dadurch sehen.«
»Schau an. Hast du mal beobachtet, ob er sich geschickt mit feinen Arbeiten anstellt, für die man Nahsichtigkeit benötigt?«
Leonie schloss einen Moment die Augen und sah dann ihre Cousine wieder an.
»Du hast Recht, er sieht mit beiden Augen. Er kann Entfernungen direkt vor seinem Gesicht genau einschätzen - das, was Sven nicht mehr kann.«
Edith nickte und spielte mit einer Haarbürste, was Leonie auf einen weiteren Punkt brachte.
»Er färbt sich auch die Haare mit Walnussextrakt dunkler. Ich fand die Tinktur neulich, als ich in seinem Ankleidezimmer die Hemden zählte.«
»Das passt zu seiner Weigerung, sich in Gesellschaft sehen zu lassen, nicht wahr?«
»Ja, so weit bin ich mit meinen Überlegungen auch schon gekommen. Und außerdem - weißt du, er hält sich sehr bedeckt, was seine
Vergangenheit anbelangt. Er hat mir zwar eine schlüssige Geschichte erzählt, aber Verschiedenes passt da auch nicht zusammen. Dafür, dass er bei einem schlichten Landvermesser aufgewachsen ist und schließlich als Soldat in der Legion gedient hat, hat er viel zu gute Manieren. Die sind nicht nachgeahmt, wie man es bei den Parvenüs kennt, sondern er kann gar nicht anders, als sich korrekt zu verhalten. Ich beobachte ihn oft, wie er mit Dienstleuten, Nachbarn und Höhergestellten umgeht, es ist vollkommen natürlich und ungekünstelt, aber immer von tadellosem Anstand.« Und mit einem kleinen, schiefen Lächeln fügte sie hinzu: »Selbst wenn ich ihn ärgere, und das kommt manchmal vor, rügt er mich zwar scharf, wird aber nie ausfallend. Er behandelt mich im Grunde immer mit Respekt und Achtung.«
»Das fiel mir auch schon auf. Er ist ein vollendeter Herr. Umso ungewöhnlicher ist sein Verhalten, möchte man meinen.«
»Nicht ungewöhnlicher als das meine, Edith.«
Ihre Cousine legte die Bürste zur Seite und lehnte sich, so gut es ihre schiefe Schulter erlaubte, zurück.
»Soll Vater ihm mal auf den Zahn fühlen?«
Leonie machte eine abwehrende Bewegung. Nicht, dass sie nicht selbst schon das eine oder andere Mal daran gedacht hätte, ihren Gatten vorsichtig zur Rede zu stellen, um ihn möglicherweise in Widersprüche zu verwickeln. Doch immer wieder hatte sie es unterlassen. Sie beantwortete sich jetzt die Frage, warum sie so handelte, und meinte: »Nein, Edith. Ich denke, er hat einen guten Grund dafür. Einen, den er mir nicht anvertrauen will.«
»Und du wartest darauf, dass er dir vertraut?«
Leonie strich sich eine Locke aus der Stirn.
»Ich fange an, darauf zu hoffen. Ist das nicht entsetzlich, Edith?«
»Nein. Du hast eine mitfühlende Seele, und er ist ein attraktiver Mann, der vermutlich schon einiges Leid durchlebt hat. So etwas kann ein Frauenherz anrühren.«
»Er hält mich für herzlos.«
»Dann hast du ihm bisher wohl ein entsprechendes Schauspiel geboten.«
»Ich habe mich ausschließlich und immer höchst damenhaft benommen.«
»Woran man mal wieder den zweifelhaften Wert strikter Konventionen erkennt.« Ihre Cousine lächelte sie freundschaftlich an. »Dennoch, bleib dabei. Aber komm aus deinem dunklen Bau heraus, deine Zeit als graues Mäuschen sollte zu Ende gehen. Mit diesem Kleid hast du schon eine Änderung in die richtige Richtung vor- genommen. Er hat es noch nicht gesehen, nicht wahr?«
»Nein. Und ich weiß nicht …«
»Du bist viel hübscher, wenn du dich nach deinen eigenen Wün- schen kleiden kannst. Deine Stiefmutter hat den bedauerlichen Geschmack einer gerupften Henne.«
Leonie lachte herzlich auf.
»Wie wahr. Gawrila wird noch mehr Aufträge von mir erhalten, fürchte ich.«
»Das sollte sie, und du solltest versuchen, dir die wirklich schönen Bewegungen deiner Freundin Camilla anzueignen. Beobachte für den Anfang ihre Hände.«
»Ach Edith, du hast mir so gefehlt! Sich mit dir zu unterhalten ist tatsächlich so, als ob man ein Korsett ablegt.«
Der Blinddarm
FORDERT ABER DIE NOT, DASS DU DICH
AN EINEN DOKTOR WENDEST,
UND DU WILLST DIR EINEN UNTER DEM HAUFEN AUSSUCHEN,
SO GIB ZUERST ACHT, OB DER MANN GESUNDE VERNUNFT HAT.
Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Leuten von allerlei Ständen im bürgerlichen Leben
Lennard bürstete am Montagvormittag den steingrauen Überrock sorgfältig aus, den sein Herr über eine grau-gelb gestreifte Weste zu tragen wünschte. Mit den Halsbinden hatte Lennard wenig Arbeit, Mansel lehnte hohe Vatermörderkragen kategorisch ab und trug nur die schmale,
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