Die Ungehorsame Historischer Roman
alle Anzeichen dafür, dass er sich in sie verliebt hatte.
Sie hob langsam ihre Rechte, und er führte sie an seine Lippen.
»Ich bin ohne Hoffnung, nicht wahr?«, fragte er leise.
»Es tut mir so leid, Ernst. Verzeihen Sie«, flüsterte sie.
Es tat ihr wirklich leid. Sie nahm an, ihr Gatte würde vermutlich der Auflösung ihrer Ehe nicht im Wege stehen, wenn sie die Gefühle des Leutnants aufrichtig erwiderte und sie ihm diesen Umstand eingestand. Aber einerseits empfand sie lediglich Freundschaft für Ernst, und zum anderen - ja, zum anderen wünschte sie nicht, die Ehe aufzulösen.
Diesen Gedanken hing sie nach, als sie in dem schön gepolsterten privaten Coupé saß. Seit dem Weihnachtsfest hatte sich ihr Ehemann außergewöhnlich umgänglich und liebenswürdig gezeigt. Vielleicht, weil derzeit die Arbeiten an der neuen Trasse ruhten und er daher mehr Zeit zu Hause verbrachte. Jedenfalls genoss sie seine Anwesenheit, die anregenden Gespräche, die sie führten, und die sehr kleinen Vertraulichkeiten, die sich langsam zwischen ihnen entwickelten.
Sie blickte aus dem Fenster und sah die Landschaft an sich vorbeirasen. Es machte ihr, im Gegensatz zu anderen Reisenden, keine Angst, es verursachte ihr weder Übelkeit noch Schwindel. Sie war einfach nur froh darüber, nicht in der Kutsche reisen zu müssen, denn diesmal hatten heftige Regenfälle die Straßen in einen unguten Zustand versetzt, und schon hatte sie auf der Strecke wenigstens drei Fahrzeuge gesehen, die mit gebrochenen Rädern gestrandet waren.
Dem Dampfross aber auf seinem stählernen Pfad machte das Wetter nichts aus. Und das teilte sie jetzt ihrem Gatten auch mit.
»Das ist wirklich ein Fortschritt, da haben Sie Recht, Leonora. Obwohl wir auch schon Probleme haben, wenn etwa heftige Sturzregen den Damm unterspülen oder wenn Schneewehen die Strecke blockieren.«
Er schien guter Stimmung zu sein und unterhielt sie mit verschiedenen Episoden aus der Zeit, in der er für eben diese Strecke gearbeitet hatte. Zu vielen Landmarken, Haltestellen, Brücken oder Tunnels konnte er ihr lehrreiche Anmerkungen machen, die ihr einen unerwarteten Einblick in seine Aufgaben erlaubten. Die Zeit verging schnell, und bald hatten sie das Offermann’sche Hotel am Graben erreicht. Es blieb ausreichend Zeit für einen leichten Imbiss, dann machte sie sich mit Hilfe eines gefälligen Zimmermädchens daran, die Abendgarderobe anzulegen. Ihr Gatte hatte ihr zuvorkommenderweise die Suite dafür überlassen und war im Teesalon geblieben.
Die Frisur hatte sie mit Ursels Hilfe nach den Angaben des Coiffeurs bereits aufgesteckt, es bauschten sich ihre braunen Locken, in denen in dieser gefälligen Form feine Goldsträhnchen aufleuchteten, um ihr Gesicht, ließen aber die schöne Nackenlinie frei und wurden nun auf dem Scheitel von dem kleinen Tuff gehalten, von dem sich eine Feder schmeichelnd an ihrer rechten Wange kräuselte. Sie nahm auch die »ägyptischen Geheimnisse«, wie sie Ursel gegenüber die Schminkwerkzeuge genannt hatte, zur Hand, färbte sich vorsichtig die Wimpern, legte einen Hauch Rouge auf die Wangen und tupfte die rosig schimmernde Pomade auf die Lippen. Sie hatte lange geübt, damit niemand auf die Idee kommen konnte, sie als angemalt zu bezeichnen. Ganz dezent betonten jedoch diese kleinen Wundermittelchen ihre Vorzüge.
Das größte Wunder bewirkte das Kleid.
Als sie in den Spiegel blickte, strahlte sie.
Ihr Gatte klopfte an der Tür und fragte, ob sie fertig sei.
»Ja, ich bin bereit, treten Sie ein und urteilen Sie!«
Er öffnete die Tür, und zu ihrer Befriedigung sah sie ihn sprachlos und sie mit offenem Mund anstarren, bis er sich einen Ruck gab.
»Leonora?«
»Noch immer dieselbe. Es war nicht eben die Rechnung für einen Kartoffelsack, ich weiß. Aber ich denke, die Ausgabe hat sich gelohnt«, kicherte sie.
»Nein, kein Kartoffelsack. Aber ich habe bald die Vermutung, Sie wären sogar in der Lage, einem solchen trüben Gegenstand Glanz zu verleihen. Madame, Sie sind eine Schönheit!«
»Cinderella möchte nun zum Tanz geführt werden!«
»Ganz zu Diensten, meine Prinzessin. Die Kutsche wartet.«
Es war eine glanzvolle Veranstaltung, der Silvesterball im Hause Hansemann. Wieder gewann Leonie einen neuen Eindruck von ihrem Gemahl, der offensichtlich von den Honoratioren sehr geschätzt wurde. Bankbesitzer, Wagon- und Dampfkesselfabrikanten, leitende Ingenieure und Aktionäre der Eisenbahn stellte er ihr vor. Er sprach mit
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