Die Ungehorsame Historischer Roman
Wiege im Wohnzimmer stand, sacht mit dem Finger über die warme Wange. Dann verließ sie das Nachbarhaus, um tatsächlich nach den Zwillingen zu schauen.
Die waren eifrig damit beschäftigt, ihre Lektionen zu lernen, und sie störte sie nicht weiter. Auf dem Tisch am Eingang hatte sie zwei Umschläge vorgefunden und setzte sich zur Lektüre des Inhalts an ihren Lieblingsplatz im Wintergarten. Dort hatte sie im Laufe der Zeit einige Änderungen in der Bepflanzung vorgenommen, und nun hingen von der Decke Körbe mit Farnen und Asparagus, an der Sonnenseite blühten farbenprächtige Anthurien, ein kleiner Zitronenbaum trug gleichzeitig Früchte und Blüten, und in breiten Tonschalen reckten Maiglöckchen ihre Rispen dem Licht entgegen und dufteten betörend.
Der erste Umschlag enthielt ein zierliches Billet aus der Hand der vielgeschmähten Camilla, das sie erfreut zur Kenntnis nahm. Ihre Freundin hatte mit de Noel, dem Konservator des Wallrafianums, gesprochen und ihn um eine Führung durch die Sammlung gebeten. Ob Leonie Lust habe, daran teilzunehmen? Das hatte sie selbstverständlich. Der Zirkel, der sich inzwischen um die schöne Ägypterin versammelt hatte, behagte ihr weit mehr als die biederen Gesellschaften, die sie zuvor besucht hatte. Gut, es waren nicht alles Damen ersten Ranges, die sich um sie scharten, es gab eine geschiedene Malerin darunter, die Gattin eines Theaterintendanten mit sehr freigeistigen Ansichten, die Tochter des Verlegers Waldegg, die sich erstaunlicherweise der Fotografie verschrieben hatte, eine Dichterin, deren Werke vielleicht nicht zu Weltruhm kommen würden, die aber, wenn sie ihre elegische Stimmung ablegte, überaus freche Couplets zu reimen imstande war, und weitere, überwiegend sehr geistreiche und gebildete Damen.
Leonie freute sich auf den Besuch am folgenden Tag und öffnete
den nächsten Umschlag. Ediths feste Handschrift war leicht zu lesen, ohne Schnörkel und auch ohne blumige Umschreibungen berichtete sie, was sich in Bonn und vor allem in der Familie zugetragen hatte. Die erste Nachricht traf Leonie ein wenig schmerzlich. Wenngleich sie mit ihrer Stiefmutter nie sonderlich warm geworden war, so tat es ihr doch leid, dass sie ein nicht lebensfähiges Kind geboren hatte. Die Geburt selbst war nicht besonders schwer gewesen, doch der Knabe war missgebildet und hatte nur wenige Stunden geatmet. Ihr Vater war seitdem von ungenießbarer Laune.
Leonie konnte sich das lebhaft vorstellen. Seine fixe Idee war es, unbedingt einen männlichen Erben zu haben, und inzwischen rannte ihm die Zeit davon.
Im nächsten Absatz bestätigte ihre Cousine ihr ihren Verdacht, jener Unteroffizier, den sie im Krankenhaus angetroffen hatten, habe Gutermann die Geschichten über Hendryk Mansel unterbreitet. »Mein Vater ist nicht gut auf den Corporal zu sprechen und macht sich selbst einige Vorwürfe, dem Mann zu viel über Deinen Gatten verraten zu haben. Aber ich denke, ein gewitzter Kerl wird in Köln schon recht schnell herausfinden, in welchen Familienverhältnissen der Chefvermesser der Eisenbahn steht. Schriftlich hatte er darum gebeten, vorsprechen zu dürfen, um sich zu vergewissern, ob es sich bei dem Hendryk Mansel um jenen Soldaten handele, mit dem er vor sechs Jahren in Algier Dienst tat. Gutermann hätte es rundum ablehnen müssen und ihn darauf hinweisen sollen, er müsse sich schon selbst mit Mansel in Verbindung zu setzten, aber der Mann wittert ja Unrat gegen jeden Wind, und das Gespräch zwischen ihnen verlief vermutlich für beide Seiten befriedigend.«
Ja, das war es wohl. Leonie hoffte nur, dieser Bredow möge keinen weiteren Schaden anrichten. Hendryk, das war ihr aus vielen kleinen Eindrücken und Vorkommnissen klar geworden, hatte mit diesem Söldner definitiv nichts zu tun, und in Algier war er auch nicht gewesen. Sie hatte sich seine bei dem Pastor gedankenlos hingeworfene Ortsbezeichnung Wadi el Kharif gemerkt und versucht, im Atlas nachzuschlagen. Dabei hatte sie zumindest herausgefunden, dass man in Ägypten etliche Wadis antraf und mit diesem Begriff ausgetrocknete Flusstäler bezeichnete. Auch eine mögliche Begegnung mit Camilla und sein großes Interesse an dieser Expedition in
den Sudan ließen darauf schließen, dass er seine Erfahrungen mit dem Orient in Ägypten gesammelt hatte. Seine Familiengeschichte hingegen mochte sogar in gewissen Zügen stimmen, er sprach ausgezeichnet Englisch. Ihre neue Lehrerin bestätigte das. Nachdem die Kinder nun zur Schule
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