Die ungehorsame Tochter
Gurte festgezogen waren, davon.
Sie hörte ihren Namen rufen, aber sie wollte nichts hören, nichts als das Trommeln der Hufe ihrer Stute. Auch nicht den leichteren
Klang anderer Hufe hinter ihr. Wieder rief jemand ihren Namen. Das war eine Jungenstimme. Bothos Stimme? Es kümmerte sie nicht.
Sie jagte die Stute über das niedrige Gatter am Ende des Parks und ritt und ritt und ritt.
Als sie zurückkehrte, dämmerte es, und die Zeit der Abendmahlzeit war schon vorüber. Ein kleiner schwarzer Einspänner stand
auf der Auffahrt vor dem Portal, und sie dachte erleichtert, ein Besucher werde ihr eine Frist gewähren, bevor sie sich, schmutzig,
mit zerrissenen Röcken und schweißnass, der Strafpredigt ihres Vaters stellen musste.
Doch niemand beachtete sie. Der Besucher war der Physikus. Er hatte vergeblich auf sein müdes Pferd eingeschlagen. Als er
das Lenthe’sche Haus erreichte, lebteBotho nicht mehr. Einer der Gärtner hatte ihn gefunden. Er lag im Gras neben dem Gatter am Ende des Parks, sein Pony graste
nur wenige Schritte entfernt. Botho war ein schüchternes Kind und ein ängstlicher Reiter gewesen. Niemand konnte verstehen,
warum er versucht hatte, mit seinem kleinen dicken Pferd über das Gatter zu springen.
In all den Jahren ihres Wanderlebens war es Rosina gelungen, die Erinnerung an den Tod ihres Bruder fest zu verschließen.
Sie dachte wohl an ihn, hin und wieder, wenn sie ein Kind sah, das ihm glich, eine Stimme hörte, die seiner ähnlich klang.
Besonders in den ersten Jahren. Und manchmal, wenn sie müde und bedrückt erwachte, glaubte sie noch für einen Moment seine
Gegenwart zu spüren. Aber mit der Zeit waren die Bilder in ihrem Kopf verblasst, und da sie sich seit jenem Herbst kaum mehr
an ihre Träume erinnerte, begegnete sie Botho auch in ihren Nächten nicht mehr.
An diesem Abend fürchtete sie sich vor dem Schlaf, vor den Bildern, die in der Dunkelheit auf sie warten würden. Doch da waren
keine, und das Kinderlachen, mit dem sie am nächsten Morgen erwachte, kam nicht aus den dunklen Räumen ihrer Vergangenheit,
sondern aus dem Hof des Gasthauses unter ihrem Fenster. Ein fröhliches Lachen, das ihr endlich erlaubte zu weinen.
MONTAG, DEN 20. MARTIUS,
VORMITTAGS
«Kaffee», piepste Jensen, «mit Kardamom. Wie immer.» Mit routiniert beflissener Ergebenheit stellte er Tasse, Zucker und Sahne
vor seinen Gast, eilte zurück hinterseinen Schanktisch und betrachtete Claes Herrmanns aus sicherer Entfernung. Eigentlich gehörte der zu den unkomplizierten
Besuchern seines Kaffeehauses. Er bestellte immer dasselbe, brachte nur selten unangenehme Gesellschaft mit und behandelte
Jensen nicht schlechter als seinen eigenen Diener. Vor allen Dingen erlaubte er sich nie rüde Scherze auf Kosten des Kaffeehauswirtes,
was bei etlichen anderen Herren gang und gäbe war.
Dennoch, es gab Tage, da ging man Monsieur Herrmanns besser aus dem Weg. Tage wie diesen, das hatte Jensen gleich gesehen.
Er kannte sich in den Gesichtern der Menschen aus. Monsieur Herrmanns hatte nicht einmal nach dem
Altonaischen Mercurius
oder der
Times
verlangt, sondern saß einfach da und starrte mit dem Grimm eines Steuereinnehmers auf seinen Kaffee. Und das zur Börsenzeit!
Mit einem Kaufmann, der seine kostbarsten Stunden so leichtfertig vertat,
musste
etwas nicht stimmen.
Natürlich stimmte etwas nicht im Hause Herrmanns. Jensen hatte das gleich gedacht, als Persching erzählte, Madame Herrmanns
habe mit Madame Sievers auf der englischen Brigg die Stadt verlassen. Verwandtenbesuche! So plötzlich? Und überhaupt: Sophie
Sievers war gerade erst aus Lissabon angekommen. Wieso reiste sie so schnell wieder ab? Und dann auch noch mit der gleichen
Brigg? Deren Ladung konnte unmöglich schon gelöscht sein, von neuer gar nicht erst zu reden. Persching hatte auch erzählt,
der Kapitän sei ein Jugendfreund von Madame Herrmanns, und was von Jugendfreunden zu halten sei, wisse man ja. Besonders bei
Engländern und Franzosen, und Madame Herrmanns sei halb Engländerin
und
halb Französin. Nein, bei den Herrmanns’ stimmte etwas ganz und gar nicht. Manche betranken sich in diesemZustand, das war unbequem, aber wenigstens gut für die Kaffeehauskasse. Herrmanns gehörte leider nicht zu dieser Sorte. Er
beschränkte sich darauf, schlechte Laune zu verbreiten.
«Jensen», rief Claes Herrmanns, «bring mir einen Port. Und den
Mercurius.
Und
beides
sofort.»
Es musste schlimmer sein, als
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