Die ungehorsame Tochter
älteste Herrmanns-Sohn. Als einer, der tadellos auswendig lernte und in all seinen Schuljahren nur ein einziges Mal auf der
Eselsbank schmoren musste, natürlich völlig zu Unrecht, war er der Trost seiner Lehrer und die Plage seiner Mitschüler gewesen.
Inzwischen hatte er in Göttingen studiert und drei Jahre im Hamburger Kontor in Genua absolviert. Der alte Strabenow war einer
der bedeutenderen Makler inder Stadt, aber eben doch nur ein Makler. Er hatte seinem Sohn, der ihm doch nur in seinem Beruf folgen sollte, das Studium
generale erlaubt und galt deshalb allgemein als äußerst exaltiert. In Genua allerdings, so hatte Christian mit heimlicher
Freude gehört, hatten sich nicht nur Ludwig Strabenows Sprachkenntnisse, sondern auch sein Verhandlungsgeschick als so mangelhaft
erwiesen, dass ihm mehr als ein gutes Geschäft durch die Lappen gegangen war.
«Jetzt erzähl doch mal», sagte Bocholt, kaum dass Strabenow sich gesetzt hatte. «Deine Frau kennt doch diese Tanzmamsell so
gut. Ich meine diese Komödiantin, von der die Leute jetzt sagen, sie ist gar keine, du weißt schon, was ich meine. Nun soll
sie plötzlich eine Comtesse sein, und ihre Familie, also, ich weiß nicht, das klingt mir doch alles nicht ganz ordentlich.
Wo ist ihr Vater denn Graf? Stimmt das überhaupt alles, oder ist das nur mal wieder so ein dummes Geschwätz? Heutzutage gibt
es ja mehr Grafen als Hütejungen, aber so eine kann doch keine Gräfin sein.»
Claes war bei den Worten ‹nun erzähl doch mal› und ‹deine Frau› erstarrt. Nun fühlte er zum ersten Mal in den mehr als vier
Jahrzehnten ihrer Freundschaft das Bedürfnis, Bocholt zu küssen. Was natürlich ein noch größerer Skandal gewesen wäre als
Sophies Scheidung. Der Gedanke erheiterte ihn seltsamerweise, und die Männer an den Nachbartischen flüsterten, so schlecht
könne es um die Herrmanns’sche Ehe wohl doch nicht stehen, wenn Claes hier sitze und vor Vergnügen grinse wie ein Hanswurst.
Wobei sie sich nicht einigen konnten, ob ihm womöglich gerade die Abreise seiner Frau guten Grund dazu gebe.
«Das mit der Gräfin ist wirklich Geschwätz, Bocholt», begann Claes eifrig. «Wobei ich zugeben muss, dass ich Rosinas Familienverwicklungen
nicht ganz durchschaue. Sie gehört nicht zu den Schwatzhaften, was in diesem Fall durchaus zu bedauern ist, denn es ist doch
eine sehr hübsche Geschichte. Fast wie vom Theater. Ich bin sicher, ihr Prinzipal wird etwas daraus machen. Tatsächlich kommt
sie aus einer vornehmen sächsischen Familie.» . (Er sah keinen Grund, Bocholt zu erzählen, dass ihre Mutter Sängerin an der Hofoper gewesen war und nur die väterliche Seite
der allgemeinen Vorstellung von vornehm entsprach.) «Irgendwann ist sie durchgebrannt, leider kann ich dir nicht sagen, warum.
Ich weiß nur, dass es bald nach dem Tod ihrer Mutter war. Wir hatten keine Gelegenheit, mehr als ein paar Worte mit ihr zu
sprechen. Sie ist ja sehr schnell mit ihrem Cousin abgereist.»
«Ihr Vater hat sie also tatsächlich suchen lassen? Obwohl sie mit den Fahrenden rumgezogen ist, will er sie zurückhaben?»
«Es scheint so. Jedenfalls hat er seinen Neffen beauftragt, sie zu suchen, und der hat sie schließlich in Altona gefunden.
Ihr Vater wusste nicht, wo sie war, ob sie überhaupt noch lebte, aber er hatte wohl angenommen, dass sie bei Komödianten sein
müsste. Alles sehr seltsam, zugegeben, aber das erklärt immerhin, warum sie ein bisschen anders als andere Komödiantinnen
ist.»
«Anders. Das stimmt. Sie soll ja auch nicht die Postkutsche genommen haben, wie es normale Leute tun, sondern reiten. In Männerkleidern.»
«Auch das stimmt.» Claes wurde immer vergnügter. Er fand es geradezu beflügelnd, über die Skandale anderer Familien zu reden.
«So kommen sie am schnellsten vorwärts.Und am sichersten. Monsieur Lenthe, ihr Cousin, hat berichtet, auf der Route nach Leipzig seien in diesem Frühjahr besonders
rabiate Räuberbanden unterwegs. Aber die Straße über Magdeburg ist fast so belebt wie die nach Lübeck, da wird sich das Gesindel
kaum trauen zuzuschlagen und sich lieber auf düsterere Wege verziehen.»
«Klemens kennt die Route», ergänzte Christian. «Er hat gesagt, dort reisten jetzt viele mit bewaffneten Eskorten, es sei leicht,
in deren Schutz mitzureiten. Ich finde es sehr ehrenhaft, dass er seinem Onkel und seiner abtrünnigen Cousine so viel seiner
Zeit widmet. Er hat einen großen Besitz zu
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