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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Jensen gedacht hatte. Er kannte Claes Herrmanns seit vielen Jahren, Port am Vormittag – so etwas
     hatte es bei ihm noch nie gegeben.
    Das fiel Claes Herrmanns auch ein, als die kleine Karaffe vor ihm stand. Trotzdem. In diesen Tagen erlebte er ja auch sonst
     vieles, was es nie zuvor gegeben hatte. Er leerte das erste Glas mit einem Zug und schenkte sich nach. Er konnte sich nicht
     daran erinnern, wann er das letzte Mal zu viel getrunken hatte. Das würde er auch heute nicht tun, obwohl ihm die Vorstellung
     außerordentlich gefiel. Der Wein schmeckte klebrig, doch er empfand die schwere Süße als tröstlich. Aufseufzend griff er nach
     dem
Mercurius
und überflog die wenigen Seiten, allerdings ohne eine einzige Zeile wirklich zu lesen.
    Auf seiner Rückreise von Cuxhaven musste er Braniffs Brigg begegnet sein. Hätte er nach ihr Ausschau gehalten, vielleicht
     hätte er Anne an der Reling stehen sehen. Aber das hatte er versäumt. Immerhin konnte Augusta nicht behaupten, er habe sich
     geweigert, seiner flüchtenden Frau zu folgen. Gleich am Morgen war er zum Hafen gegangen und hatte an den Anlegern, sogar
     beim Wasserschout gefragt, welche Schiffe heute oder morgen mit dem Ziel London ausliefen. Es waren nur zwei gewesen, ein
     Holländer und ein Portugiese. Keines war für ihn in Frage gekommen. Niemand konnte von ihm erwarten, auf diesen Seelenverkäufern
     zu reisen. Außerdem würden sienicht schnell genug sein, die Brigg einzuholen, selbst wenn Braniff sich damit aufhalten musste, Ballast zu laden. Sollten
     sie doch reisen, seine Frau und seine Tochter, mit diesem Freibeuter und ohne sich von ihm zu verabschieden, ohne zu bedenken,
     wie sie damit dem Ruf der Familie schadeten. Wenn das der Dank für das gute Leben war, das er ihnen ermöglichte – sollten
     sie doch reisen.
    Bevor er mit der bedauernswerten Tatsache hadern konnte, dass Frauen eigenes Geld besitzen durften, einige tatsächlich welches
     besaßen und damit auch noch taten, was ihnen beliebte, retteten ihn Gelächter und Rufe nach dem Wirt aus seinen Gedanken.
     Die Börsenzeit war vorüber, das Kaffeehaus füllte sich schlagartig. Er hatte im um diese Zeit nahezu leeren Kaffeehaus nur
     schnell seinen Kaffee trinken und dann ins Kontor zurückkehren wollen. Er spürte nicht die geringste Lust, sich angaffen oder
     gar ausfragen zu lassen. Nun war es zu spät. Wenn er jetzt ging, würden es alle als Flucht ansehen. Er warf die Zeitung auf
     den Tisch, lehnte sich zurück und sah den Männern trotzig in die Gesichter.
    Er kannte sie alle, Jahr um Jahr traf er sie Tag um Tag an der Börse oder im Hafen, auf den Promenaden an der Alster oder
     auf den Wällen, viele auch in ihren Salons und in den besseren Gasthäusern. Er traf sie in den Gottesdiensten wie bei Auktionen,
     Konzerten oder im Rathaus. Selbst wenn er die Namen einiger der Männer nicht erinnerte, so wussten doch alle den seinen. Auch
     heute grüßte ihn jeder, niemand, der es wagte, ihn zu übersehen, aber auch niemand, der sich zu ihm an den Tisch setzte. Als
     habe er ein gemeines Fieber. Schließlich kamen Christian und Bocholt. Er winkte seinem Sohn und seinemalten Freund seit Lateinschulzeiten, als fürchte er, auch sie könnten den Platz neben ihm meiden.
    «Du warst schon wieder nicht an der Börse», schalt Bocholt zur Begrüßung und setzte sich mit seiner üblichen missbilligenden
     Miene Claes gegenüber. «Wenn du so weitermachst, ist dein Sohn bald der Herr in deinem Haus. Christian ist ja tüchtig, aber
     für das Altenteil bist du noch zu jung.»
    «Natürlich ist er das», sagte Christian, der einige Freunde begrüßt hatte, bevor er nun neben seinem Vater Platz nahm. «Und
     Ihr irrt, wenn Ihr glaubt, dass er daran auch nur denkt. Vater war wegen der Lotsen unterwegs, und warum sollten zwei Herrmanns’
     zur Börse gehen?»
    Das klang sehr munter und selbstbewusst, umso befremdlicher fand es Bocholt, dass Christian nach diesen Worten plötzlich in
     sich zusammensackte und den Kopf tief über den Tisch beugte. Es nützte nichts. Der Anlass dieses seltsamen Verhaltens, ein
     junger Mann, blass, dünn und bis auf die grauen Wadenstrümpfe von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, hatte ihn schon entdeckt
     und drängte sich an den Männern vorbei. Ludwig Strabenow hatte mit Christian die Lateinschule am Johanneum besucht, sie waren
     dennoch keine Freunde geworden, was nicht nur daran lag, dass Strabenow die Klassen erheblich schneller absolvierte als der
    

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