Die ungehorsame Tochter
Jensen gedacht hatte. Er kannte Claes Herrmanns seit vielen Jahren, Port am Vormittag – so etwas
hatte es bei ihm noch nie gegeben.
Das fiel Claes Herrmanns auch ein, als die kleine Karaffe vor ihm stand. Trotzdem. In diesen Tagen erlebte er ja auch sonst
vieles, was es nie zuvor gegeben hatte. Er leerte das erste Glas mit einem Zug und schenkte sich nach. Er konnte sich nicht
daran erinnern, wann er das letzte Mal zu viel getrunken hatte. Das würde er auch heute nicht tun, obwohl ihm die Vorstellung
außerordentlich gefiel. Der Wein schmeckte klebrig, doch er empfand die schwere Süße als tröstlich. Aufseufzend griff er nach
dem
Mercurius
und überflog die wenigen Seiten, allerdings ohne eine einzige Zeile wirklich zu lesen.
Auf seiner Rückreise von Cuxhaven musste er Braniffs Brigg begegnet sein. Hätte er nach ihr Ausschau gehalten, vielleicht
hätte er Anne an der Reling stehen sehen. Aber das hatte er versäumt. Immerhin konnte Augusta nicht behaupten, er habe sich
geweigert, seiner flüchtenden Frau zu folgen. Gleich am Morgen war er zum Hafen gegangen und hatte an den Anlegern, sogar
beim Wasserschout gefragt, welche Schiffe heute oder morgen mit dem Ziel London ausliefen. Es waren nur zwei gewesen, ein
Holländer und ein Portugiese. Keines war für ihn in Frage gekommen. Niemand konnte von ihm erwarten, auf diesen Seelenverkäufern
zu reisen. Außerdem würden sienicht schnell genug sein, die Brigg einzuholen, selbst wenn Braniff sich damit aufhalten musste, Ballast zu laden. Sollten
sie doch reisen, seine Frau und seine Tochter, mit diesem Freibeuter und ohne sich von ihm zu verabschieden, ohne zu bedenken,
wie sie damit dem Ruf der Familie schadeten. Wenn das der Dank für das gute Leben war, das er ihnen ermöglichte – sollten
sie doch reisen.
Bevor er mit der bedauernswerten Tatsache hadern konnte, dass Frauen eigenes Geld besitzen durften, einige tatsächlich welches
besaßen und damit auch noch taten, was ihnen beliebte, retteten ihn Gelächter und Rufe nach dem Wirt aus seinen Gedanken.
Die Börsenzeit war vorüber, das Kaffeehaus füllte sich schlagartig. Er hatte im um diese Zeit nahezu leeren Kaffeehaus nur
schnell seinen Kaffee trinken und dann ins Kontor zurückkehren wollen. Er spürte nicht die geringste Lust, sich angaffen oder
gar ausfragen zu lassen. Nun war es zu spät. Wenn er jetzt ging, würden es alle als Flucht ansehen. Er warf die Zeitung auf
den Tisch, lehnte sich zurück und sah den Männern trotzig in die Gesichter.
Er kannte sie alle, Jahr um Jahr traf er sie Tag um Tag an der Börse oder im Hafen, auf den Promenaden an der Alster oder
auf den Wällen, viele auch in ihren Salons und in den besseren Gasthäusern. Er traf sie in den Gottesdiensten wie bei Auktionen,
Konzerten oder im Rathaus. Selbst wenn er die Namen einiger der Männer nicht erinnerte, so wussten doch alle den seinen. Auch
heute grüßte ihn jeder, niemand, der es wagte, ihn zu übersehen, aber auch niemand, der sich zu ihm an den Tisch setzte. Als
habe er ein gemeines Fieber. Schließlich kamen Christian und Bocholt. Er winkte seinem Sohn und seinemalten Freund seit Lateinschulzeiten, als fürchte er, auch sie könnten den Platz neben ihm meiden.
«Du warst schon wieder nicht an der Börse», schalt Bocholt zur Begrüßung und setzte sich mit seiner üblichen missbilligenden
Miene Claes gegenüber. «Wenn du so weitermachst, ist dein Sohn bald der Herr in deinem Haus. Christian ist ja tüchtig, aber
für das Altenteil bist du noch zu jung.»
«Natürlich ist er das», sagte Christian, der einige Freunde begrüßt hatte, bevor er nun neben seinem Vater Platz nahm. «Und
Ihr irrt, wenn Ihr glaubt, dass er daran auch nur denkt. Vater war wegen der Lotsen unterwegs, und warum sollten zwei Herrmanns’
zur Börse gehen?»
Das klang sehr munter und selbstbewusst, umso befremdlicher fand es Bocholt, dass Christian nach diesen Worten plötzlich in
sich zusammensackte und den Kopf tief über den Tisch beugte. Es nützte nichts. Der Anlass dieses seltsamen Verhaltens, ein
junger Mann, blass, dünn und bis auf die grauen Wadenstrümpfe von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, hatte ihn schon entdeckt
und drängte sich an den Männern vorbei. Ludwig Strabenow hatte mit Christian die Lateinschule am Johanneum besucht, sie waren
dennoch keine Freunde geworden, was nicht nur daran lag, dass Strabenow die Klassen erheblich schneller absolvierte als der
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