Die ungehorsame Tochter
Seite und um ihr Wohl bemüht. So gab er auch jetzt
schnell nach, und das Gasthaus
Zum Schwarzen Ross
, zu dem er sie führte, war wieder das beste in der kleinen Stadt.
Der Wirt, ein hagerer Mann mit einer großen geröteten Nase und geschäftstüchtig blitzenden dunklen Augen, staunte über ihren
Wunsch, zwei Zimmer zu mieten. Gewöhnlich teilten sich mehrere Reisende, auch einander völlig fremde, eines zu dritt oder
zu viert. Im Übrigen sei nur noch eines frei, ein kleines unter dem Dach. Die Stadt sei wegen des Lämmermarktes voller Besucher.
Bevor Klemens wieder vorschlagen konnte, doch noch weiterzureiten und in einem der nächsten Dörfer eine komfortablere Unterkunft
zu suchen, sagte Rosina schnell ja, und so verbrachte Klemens die Nacht auf ihren ausgerollten Pferdedecken auf den Dielen
der Mansarde.
Als sie erwachte, wusste sie nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Der Mond stand noch am Himmel und sandte einen dünnen
Strahl seines Lichtes durch die Läden vor dem Fenster. Die Nacht schien totenstill, erst allmählich drangen deren Geräusche
in ihr Bewusstsein.Das schläfrige Wiehern eines Pferdes, der Ruf einer Eule, das Knistern winziger Mäusefüße irgendwo hinter den Dachsparren.
Und das? Waren das Schritte? Sie setzte sich auf und hielt angestrengt lauschend den Atem an. Jemand schlich die Treppe herauf,
verhielt nach einem leisen Knarren der Dielen und schlich wieder davon. Dann war nur noch Klemens’ Atmen zu hören, ein kaum
vernehmbares Hauchen. Irgendjemand hatte sich auf der Suche nach seinem Zimmer – oder dem eines Mädchens –, in dem verschachtelten alten Haus verirrt.
Sie sank zurück auf das harte, mit nichts als Hirsespelzen gefüllte Kissen und schloss die Augen. Sofort kehrten die Bilder
ihres Traumes zurück. Mit dem Erwachen hatte sie sie vergessen gehabt, nun waren sie wieder da. Nicht vollständig und klar
wie im Schlaf, nun im Wachen erinnerte sie nur noch Fetzen und Schemen. Da war viel schwarze Erde, nahten gefährliche Hufe
und tückisch rollende Augen eines Pferdes, Kirschblüten fielen auf die Erde, und dann war da auch dieses Lied. Sie hörte es
nicht – hörte man je etwas in den Träumen? –, aber sie wusste, dass es da war und von großer Bedeutung. Und jetzt, jetzt – rasch öffnete sie die Augen, doch es war schon
zu spät. Das Bild des riesigen Dreizacks, der mit den scharfgefeilten Spitzen heranraste wie ein Geschoss, folgte ihr aus
dem Traum ins Wachen, und sie erstickte ihren Schrei in dem Kissen.
Er sei alt und krank und wolle ihr verzeihen, hatte Klemens gesagt. Wenn er so ein wenig seines Friedens wiederfand, mochte
er das tun. Das war einzig seine Sache. Ihre war es, ihm zu verzeihen. Sie glaubte nicht, dass sie das konnte, und war auch
nicht sicher, ob sie es überhaupt wollte. Vergebt, so wird euch vergeben. Das hattesie oft von der Kanzel gehört. Wer war sie, dass sie dazu nicht bereit war? War sie anmaßend? Oder nur zu schwach? Hieß es
nicht, dass die Schwachen mit Stärke umgürtet seien? Man musste stark sein, um zu vergeben. Also nur zu stolz? Zu hochmütig?
Sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich, sprach Paulus. Hatte sie sich gefürchtet? In den schwarzen Nächten und frostigen
Tagen jenes letzten Sommers in dem großen Haus? Oder hatte sie nur gehasst?
Niemand bezichtigte sie der Schuld an Bothos Tod. Jedenfalls sprach niemand darüber. Doch in allen Gesichtern las sie den
Vorwurf. Wenn auch niemand wusste, dass sie gehört hatte, wie er ihren Namen rief, als sie zornig davonjagte, wussten bald
alle, dass er versucht hatte, ihr zu folgen, so wie er es oft getan hatte. Auch wussten alle, dass sie im Zorn davongeprescht
war wie ein Dragoner im Sturm, dass sie den Damensattel verweigert und trotz des strengen Verbots wie ein Mann geritten war.
Die nun folgenden Monate erinnerte sie als eine andauernde lähmende Stille. Da waren wohl die vertrauten Stimmen und Geräusche
der Diener, der Knechte und Mägde, der Tiere in den Ställen und selbst des Mühlrades, dennoch schien die Welt um das große
Haus nicht mehr zu atmen. Nicht nur Bothos helle Stimme und der Klang seiner kleinen, stets eiligen Füße fehlten. Auch seine
Mutter war verstummt. Die Musik, früher Karola Lenthes Sprache in Momenten der Freude wie des Kummers, bot ihr keinen Trost.
Das Musikzimmer blieb auch jetzt, gerade jetzt verschlossen.
Alexander Lenthe war nach dem Tod seines Sohnes häufig auf Reisen.
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