Die ungehorsame Tochter
hätte etwas hören müssen. Irgendeinen Aufschrei
des Zorns, vielleicht sogar des Schmerzes. Aber da war nichts, kein Ton, kein Laut, an den sie sich erinnerte. Da schoss nur
die schwere Bronze auf sie zu, die scharfen Spitzen des Dreizacks, die ihre Wange aufschnitten wie ein Messer. Dann erst folgte
ein Ton: der dumpfe Aufprall der Statue auf den Dielen der Bibliothek.
Sie erinnerte sich auch nicht genau, was dann geschehen war. Nur wie sie in der Küche saß, die Köchin mit einem nassen Tuch
versuchte, das Blut zu stillen, und die Mädchen flüsternd um sie herumhuschten. Der Physikus wurde nicht gerufen.
Sosehr Emma es damals auch wünschte, es stellte sich kein Fieber ein. Die Wunde war nicht so tief, wie es zuerst den Anschein
gehabt hatte, und die Salben und Verbände der Köchin ließen sie bald heilen. Ein tiefroter Narbenstreifen zog sich nun über
ihre linke Wange bis zum Kinn hinunter, doch das bekümmerte sie nicht. Auch das Mal, das Kain auf der Stirn getragen hatte,
war nicht wirklich ein Makel, sondern ein Zeichen zu seinem Schutz gewesen.
Zwei Tage und Nächte nachdem die Köchin den letzten Verband abgenommen und gefunden hatte, die Wunde sei nun verheilt, sie
werde mit der Zeit gewiss heller und unter ein wenig Schminke leicht zu verbergen sein, schlüpfte Emma in der Mitte der Nacht
in die gestohlenen Kleider, zog ihr heimlich gepacktes Bündel unter ihrem Bett hervor und öffnete das Fenster.
Das war nun viele Jahre her. Sie hatte ihren Vater und alle und alles, was zu ihm gehörte, seither nicht mehr gesehen. Und
nun? Wie sollte sie mit ihm sprechen? Was sollte sie mit ihm sprechen?
Sie lag in der Dunkelheit und lauschte in die Nacht. Nichts regte sich. Selbst die Mäuse im Dach schliefen. Da war nur Klemens’
Atem. Plötzlich wusste sie, was ihr so seltsam schien. Er atmete sanft und gleichmäßig, doch es war nicht das Atmen eines
Schlafenden.
Die beiden Reiter, die von Lüneburg über die Heide, durch die Sümpfe bei Gifhorn und weiter nach Braunschweig galoppierten,
wurden allgemein für reitende Posten gehalten. Niemand sonst würde seine Pferde so erbarmungslos vorwärtstreiben. Wer ihnen
an ihrem Weg nachsah, dachte, die Post in ihren Satteltaschen müsse von ganz besonderer Wichtigkeit sein.
Christians Bedenken waren umsonst gewesen. Filippo, von dem er gedacht hatte, dass der nur ein Akrobat und Schauspieler mit
bescheidenen Talenten war, ritt, als sei er sein Leben lang auf dem Rücken eines schnellen Pferdes über das Land gejagt.
Schon in Lüneburg hatten sie ihre Pferde gegen frische eingetauscht und Nachricht nach dem Neuen Wandrahm geschickt, man möge
sie dort so bald als möglich abholen, damit sie nicht entgegen den (gut bezahlten) Versprechungen des Postenhalters an andere
Reiter weitergegeben würden. Sooft es möglich war, wechselten sie ihre müde gejagten Tiere gegen frische aus. So bewältigten
sie eine Wegstrecke, die Rosina und Klemens einen ganzen Tag gekostet hatte, in wenigen Stunden.
Nicht Christian, sondern Filippo war es, der stets zunoch mehr Eile drängte, stets auf die nächste Herberge verwies, wenn es darum ging, endlich eine Rast einzulegen. An nahezu
jedem Posten standen frische Pferde bereit, kein einziges Mal wurden sie ihnen verweigert.
Weniger Glück hatten sie bei der Suche nach einer Spur von Rosina und Klemens. Wen immer sie nach zwei jungen Männern fragten,
der eine groß und schlank, der andere deutlich kleiner und mit einer langen Narbe auf der linken Wange, niemand konnte sich
an sie erinnern. Erst in Braunschweig, wo Christian auf dem besten Gasthof bestand, um die wenigen Stunden ihrer Rast wenigstens
in einem guten Bett zu verbringen, berichtete der Wirt, die beiden jungen Herren Lenthe hätten die Nacht von Montag auf Dienstag
in seinem Haus verbracht.
MITTWOCH, DEN 22. MARTIUS,
NACHMITTAGS
Auch das preußische Wernigerode an der Kreuzung zweier alter hansischer Handelsstraßen war eine bedeutende Stadt gewesen,
bis Pest, Krieg und verheerende Brände den Reichtum vernichteten. Die letzte Feuersbrunst vor beinahe zwei Jahrzehnten hatte
mehr als dreihundert Gebäude gefressen. Gegen all diese Heimsuchungen trotzten einige Häuser der kleinen Stadt noch mit kunstvollen
Fassaden. Schwarz, rot und grün bemaltes Fachwerk, reich und eigen geschnitztes Gebälk, blaugraue, hier und da von spitzen
Türmchen aufgeheiterte Schieferdächer, hoch aufragende Kirchturmspitzen
Weitere Kostenlose Bücher