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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Wenn er heimkehrte, oft nur für wenige Tage, verschwand
     er gewöhnlich bald in seiner Bibliothek.Seltsamerweise bestand er dann stets darauf, den Unterricht seiner Tochter fortzusetzen. Damals, als er begann, seinen Sohn
     zu unterrichten, hatte sie sich beschwert, dass sie nicht lernen dürfe. Also hatte er begonnen, auch ihr Unterricht zu geben.
     Er hatte geglaubt, sie werde es schnell müde werden, in seiner stets dämmerigen Bibliothek über dicken Büchern zu hocken,
     Latein zu lernen, sich in der Kanzleisprache zu üben, mit seinen Karten die Beschaffenheit der Erde und des Himmels zu studieren.
     Stattdessen lernte sie schnell und mit wachsender Neugier. Widerwillig und heimlich merkte er, dass diese Stunden mit seiner
     Tochter ihm Vergnügen bereiteten. In diesen Monaten lernte sie auch alles, was er über die amerikanischen Kolonien und die
     karibischen Inseln, Spanisch- und Portugiesisch-Amerika wusste. Er zeigte ihr Karten und Bilder, ließ sie Nachrichten aus
     dieser fremden, wilden Welt aus der Zeitung vorlesen, und beinahe glaubte sie, er fühle Sehnsucht danach.
    Karola Lenthe starb so still, wie sie zuletzt gelebt hatte. Ein tiefer Kratzer an ihrer Hand, die Folge einer Ungeschicklichkeit
     beim Verlassen der Kutsche, entzündete sich. Sie beachtete ihn nicht, und ebenso wenig schien sie das Fieber, das bald folgte,
     zu beachten. Es quälte sie über einige Wochen, es kam und ging, und sooft der Physikus auch sagte, nun sei es überstanden,
     Madame Lenthe brauche nur noch viel Schonung und Ruhe, flackerte es wieder auf. Am Ende des Winters, als die Tage schon begannen,
     länger zu werden, und alle auf die Wärme des Frühjahrs hofften, starb sie. Sie ließ einfach das Leben los und verschwand.
    In den Wochen davor hatte Rosina, die damals noch Emma hieß, geglaubt, nie könne sie einsamer sein als inder Stille nach Bothos Tod. Nun erfuhr sie, dass es kein Maß für Einsamkeit gibt. Sie lernte auch, dass es nicht möglich ist,
     diesen Zeiten zu entkommen wie einem kalten Zimmer. Als sie nach der Tür suchte, fand sie sie nicht, als sie sie endlich gefunden
     hatte, wartete dahinter neue Leere, das nächste kalte Zimmer.
    Auch wenn sie es sich nicht eingestand, hatte sie gehofft, hinter dieser Tür ihren Vater zu treffen. Doch obwohl er in diesen
     Monaten nicht mehr verreiste, war er doch nicht da. Er war im eigenen Kummer eingeschlossen, und weil sie das nicht sah, nicht
     erkennen konnte, vermochte sie auch nicht zu sehen, dass er litt wie sie. Wo Vater und Tochter einander hätten halten können,
     blieben sie füreinander unerreichbar, und aus der Unerreichbarkeit, aus dem Unvermögen, das gemeinsame Leid zu teilen, wuchs
     schließlich eine Barrikade aus kaltem Zorn.
    Am Ostersonntag nahm sie einen Stein und zerbrach die Scheibe des großen Fensters zum Musikzimmer. Als sie das dritte Lied
     spielte, das heiterste, ein schneller Tanz, drangen die Töne des Klavichords endlich bis in die Bibliothek, und der Zorn Alexander
     Lenthes entlud sich zum ersten Mal. Er öffnete die Tür zu dem so lange verschlossenen Raum, und der Anblick des Mädchens,
     ihr über die Tasten gebeugter blonder Kopf, der anmutige Nacken, ließen ihn die Fassung verlieren. «Hör auf», schrie er, «hör
     sofort auf.» Als beachte sie ihn nicht, hob sie lächelnd den Kopf, sah in den Frühling hinaus und begann zu singen. Da schlug
     er zu.
    Emma war noch keine fünfzehn Jahre alt. Sie wusste nicht um die enge Verbindung von Trauer, Schuld und Zorn. Alexander Lenthe,
     den sie für den klügsten Menschen hielt, weil er sie so viel über das äußere Wesen derWelt gelehrt hatte, wollte davon nichts wissen. Emma bot ihm die Stirn und tat, was er verboten hatte. Ihr Gesicht, ihre Gestalt,
     ihre Bewegungen und ihre Stimme zeigten ihm, was er verloren und, vielleicht schlimmer noch, was er versäumt hatte. Der Zorn
     brannte, doch der war leichter zu ertragen als das, was er zudeckte.
    In diesem Sommer gastierten wandernde Komödianten in Hardenstein. Es waren schon oft welche auf ihrer Reise zu den größeren
     Städten durch den kleinen Ort gezogen, nur hatten sie nie lange genug haltgemacht, um ihre Bühne aufzubauen. Diesmal war eines
     ihrer Pferde an einer Kolik verendet. Bis sie den Preis für ein neues ausgehandelt hatten und vielleicht auch weil ihre Kasse
     leer war, blieben sie für einige Tage.
    Emma hörte von den Komödianten, als die Frau des Gärtners sich empörte, der zweite Kutscher habe einer

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