Die ungehorsame Tochter
empfingen Rosina und Klemens hinter dem Mauerring.
Über alldem und schon von ferne zu sehen thronte die mächtige Schlossburg der Stolberger Grafen. Am dichtbewaldetenHang der hier steil aufsteigenden Harzhöhen erbaut und schon vom kalten Dunst des Gebirges berührt, wirkte sie abweisend und
fremd, als gehöre sie in einen weitaus schrofferen Landstrich und nicht an diesen Ort.
Es war erst Nachmittag, und sie hatten nicht vorgehabt, in Wernigerode zu rasten. Bis zu Klemens’ Mine war es nicht mehr weit,
sie konnten sie leicht vor Einbruch der Dunkelheit erreichen und im Haus des Verwalters Unterkunft finden. Doch dann, schon
nahe dem Stadttor, verlor Rosinas Fuchs ein Eisen, ein zweites erwies sich als locker, und sie mussten sich auf die Suche
nach einem Hufschmied machen. Es gab zwei in der Stadt, doch weil einer der Schmiede vor drei Tagen gestorben und sein Haus
noch in Trauer war, blieb nur einer. Der wollte den Fuchs gerne neu beschlagen, natürlich, das sei sein Handwerk, doch nicht
sofort. Nein, auch nicht um den doppelten Preis. Erst seien die zu beschlagen, die schon vor der Schmiede in der Breiten Straße
warteten.
Das waren an diesem Tag etliche. So blieben sie in der Stadt und fanden Unterkunft in der Herberge
Zur goldenen Forelle
am Markt.
Sie aßen in der Gaststube zu Abend, die Verstimmung, die entstanden war, als Rosina sich geweigert hatte, Claes Herrmanns’
Fuchs gegen ein Mietpferd zu tauschen und doch gleich weiterzureiten, schwand endlich. Nicht zuletzt durch die Gesellschaft
eines Zeichenkünstlers aus Gotha, der unterwegs war, das wilde Bodetal zu erwandern und zu zeichnen. Ein äußerst gesprächiger
junger Herr, der viel und Schauerliches über das Brockengespenst und auf den stürmischen Höhen miteinander tanzende Hexen
und Teufel zu berichten wusste. Auch von den Venedigern erzählte er, von den unheimlichen fremdenSchatzsuchern, die für ihre Brüder Geheimzeichen auf Steine ritzten und sich mit nur einem Zauberspruch blitzschnell vom Harz
bis nach Venedig versetzen konnten.
DONNERSTAG, DEN 23. MARTIUS,
VORMITTAGS
Am nächsten Morgen, bald nach Sonnenaufgang, verließen sie die schützenden Mauern Wernigerodes und ritten auf dem Weg nach
Süden in das Gebirge. Auch dieser Tag war grau und zudem winterlich, mit jedem Schritt der Pferde erschien er Rosina kälter.
Der Weg, gerade breit genug für einen Karren oder ein einspänniges Fuhrwerk, führte am Ufer eines Baches entlang zunächst
nur sanft bergan. Der Wald, um Wernigerode durch die zahlreichen Birken, Ebereschen und Buchen noch licht, wurde, je höher
sie ritten, mehr und mehr zum finsteren Fichtenforst.
Einmal glaubte Rosina die spitzen Ohren eines auf eine Felskuppe geduckten Luchses zu erkennen, aus den Zweigen einer allein
stehenden, majestätischen Fichte im Bachtal floh ein aufgeschrecktes Sperberpärchen. Sonst wirkte der Wald verlassen, bis
sie auf eine Köhlerhütte trafen. Der Geruch der Kohle war ihnen schon eine Weile entgegengeweht, endlich öffnete sich der
Wald und gab die Lichtung mit der spitz zulaufenden Hütte aus Stämmen und Zweigen und einem blau rauchenden Meiler frei. Der
Köhler und seine beiden Gehilfen waren damit beschäftigt, auf einer alten Kohlstelle einen zweiten zu errichten. Die Männer
drehten sich nur kurz nach den Reitern um, erwiderten Rosinas Morgengruß mit einemNicken und fuhren fort, die Spalten zwischen den zu einer gut mannshohen Pyramide aufgerichteten Buchenknüppeln mit Kleinholz
aufzufüllen.
Am Rand der Lichtung gabelte sich der Weg, und Klemens, der hinter ihr ritt, rief Rosina zu, der rechte führe zu der Mine.
Während sie den schmalen, nun steil bergan führenden Pfad hinaufritten und schnell hinter dichtem Unterholz verschwanden,
sah der jüngere Gehilfe des Köhlers ihnen nach. Das konnten nur Fremde sein, unverständige reiche Leute aus einer Stadt, aus
Braunschweig womöglich. Wer sonst würde sich auf diesen im Frühjahr stets morastigen Pfad wagen, und das nur zum Zeitvertreib?
Wozu sonst? Schließlich führte der Pfad nur zu einer alten Mine, wenn man nicht schlau genug war, den breiten Weg von der
anderen Seite des Berges zu nehmen, und die war längst mit Wasser vollgelaufen und stillgelegt.
Seit Hunderten von Jahren gruben die Menschen auf der Suche nach Silber, Blei, Kupfer, Eisen und anderen Schätzen der Erde
tiefe Stollen in den felsigen Grund des Harzes. Generationen von Fürsten und Bürgern
Weitere Kostenlose Bücher