Die ungehorsame Tochter
so, weil der Paulung das Mädchen geheiratet hat, das dem Hörne verlobt war. Tatsächlich
hat er sie sogar erst in Schande gebracht und dann notgedrungen geheiratet. So war das. Von wegen Lotsgelder.»
Jakobsen schob energisch seinen Hocker zurück, richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und stemmte die Arme in die Hüften.
«Du bist geschwätzig wie ein Waschweib. Diese alte Geschichte ist ein staubiger Mehlsack, und wahrscheinlich ist kein Wort
davon wahr.»
«Sag ich ja», Titus rieb mit dem letzten Stück Roggenbrot seinen Teller sauber und grinste breit, «die Leute reden nichts
als Unsinn. Und wenn wir uns jetzt nicht auf den Rückweg machen, Rosina, denkt Gesine, uns hat auch einer in die Elbe geschubst.
Mitsamt ihren Stoffen und Bändern.»
An der Tür drehte sich Rosina noch einmal um. «Wie hieß das Mädchen, Jakobsen? Anna?»
«Anna, ja. Anna Hörne.»
«Und wie sah sie aus?»
«Wie Mädchen so aussehen. Nicht groß, nicht klein, ziemlich schlank und blond. Sie war ganz hübsch mit ihrer hellen Haut und
den Locken. Obwohl sie die immer ganz fest geflochten trug, Hörne hätte kaum erlaubt, dass sich da was kringelt und ringelt.
Trotzdem, lass dir von Broder keine Flausen in den Kopf setzen. Es kann ja sein, dass es wirklich kein Unfall war. Altona
ist nicht Hamburg, aber auch dort treibt sich alles mögliche Gesindel herum und kommt auf dumme Gedanken, besonders wenn die
Schiffe so lange im Hafen liegen müssen. Selbst wenn es kein Unfall war, der alte Hörne ist der Letzte, der mit ihrem Tod
zu tun hat.»
«Ein Königreich für deine Gedanken, Rosina.»
Seit sie das Millerntor passiert hatten und über den Hamburger Berg wanderten, hatte Rosina nichts mehr gesagt. Einmal war
sie stehen geblieben und hatte einem Schwalbenpaar nachgesehen und gemurmelt, dass es nach einem so kalten Winter doch recht
früh für Schwalben sei. Sonst nichts.
«So viel sind sie nicht wert. Ich denke nur über den Klatsch der Melzerin nach. In einem hatte sie recht, Titus. Ich kannte
das Mädchen.»
«Unsinn, Rosina. Die war eine Lotsentochter, solche Leute kennen uns nicht.»
«Eigentlich nicht. Aber sie war vorgestern Abend im Theater. Broder hat doch erzählt, sie sei mit dem jungen Paulsen, oder
heißt er Paulung?, befreundet. Matthias hat er ihn genannt, daran erinnere ich mich genau, und das Mädchen hieß Anna. Vorgestern
hat ein Mann Helena und mir geholfen, die neue Truhe die Treppe hinaufzutragen, und ich weiß genau, dass er das Mädchen, das
bei ihm war, Anna genannt hat und sie ihn Matthias. Sie wollte furchtbar gerne in die Vorstellung, aber er hatte offenbar
nicht genug Geld. Vielleicht hat er das auch nur vorgeschoben, weil er ein solches Vergnügen für seine brave Liebste für zu
frivol befand oder weil er den Zorn ihres Vaters fürchtete. Jedenfalls haben wir ihm für seine Hilfe zwei Billetts geschenkt.
Er war nicht sehr erfreut, das Mädchen aber umso mehr.»
«Das heißt noch lange nicht, dass sie tatsächlich an ihrem letzten Abend in die Theaterscheune gekommen sind. Vielleicht war
er zu höflich, euren Lohn abzulehnen, und hat die Billetts auf den Mist geworfen.»
«Das glaube ich nicht. Sie schien mir recht entschiedenzu sein, eine, die wusste, was sie wollte. Außerdem bin ich ihr an dem Abend begegnet, und wenn ich nicht auf sie gehört hätte,
würde sie jetzt sicher noch leben.»
Rosina erinnerte sich jetzt genau. Die Vorstellung war schon zu Ende gewesen. Die Schauspieler saßen in dem engen Hinterzimmer,
das bei der Altonaer Theaterscheune als Garderobe fungierte, befreiten sich aus ihren Kostümen und kratzten sich die dicke
Schminke vom Gesicht. Gesine flatterte herum, rettete hier einen Handschuh, dort ein Stück Litze, Goldflitter oder einen falschen
Zopf vom staubigen Boden, ermahnte Manon, sie möge endlich aufhören, in den Spiegel zu starren, und ihr Kostüm ausziehen,
half Helena, einen Kamm aus dem Gewirr ihrer Locken zu nesteln, und beobachtete mit Argusaugen Maline und Joseph, die beiden
neuen Mitglieder. Sie spielten noch die kleinsten, zumeist sogar die stummen Rollen, tanzten dafür schon ganz passabel Ballett.
Jean, immer noch im königlich blutroten Mantel des Tyrannen, in dessen Rolle er gerade noch das Publikum hatte erschauern
lassen, blätterte in seiner Abschrift des Textes und suchte die Stelle, an der der Tyrann vom Saulus zum Paulus wird und an
der er, wie Helena behauptete, fürchterlich gepatzt
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