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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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hatte. Titus kroch auf dem Boden herum und suchte leise fluchend einen
     Knopf, der in irgendeine Ecke gerollt sein musste, und Fritz saß versunken in einer Nische und blies leise Rosinas silberne
     Flöte. Filippo war schon fertig, jedenfalls war er nicht mehr da. Er war Muto nachgelaufen, gewiss wollte er ihm und Rudolf
     helfen, das Flugwerk und die Donnermaschine zu sichern.
    Alle hatten etwas zu tun, schwatzten und lachten, stritten, ob diese Ballettmusik zu schnell oder zu langsamgespielt worden war, ob die Altonaer Stadtpfeiffer schlechter musizierten als die Hamburger, Braunschweiger oder Leipziger
     oder ob das neue dunkle Rouge nicht gar zu sehr nach überreifen Pflaumen aussah.
    Ihre Erschöpfung spürten sie jetzt noch nicht. Noch waren sie wie elektrisiert von der Erregung des Spiels, von der Musik
     und vom Applaus. Besonders vom Applaus. Es gab auch Abende, an denen es nach der Vorstellung in der Garderobe still war, an
     denen die Stimmen müde und dumpf klangen. Oder scharf, je nach Temperament. Abende, an denen der Funke nicht übergesprungen
     war und das Publikum sich kaum anders als auf einer Promenade am Sonntagvormittag gebärdet hatte, Abende, an denen Parkett
     und Galerie leerer geblieben waren als Bühne und Orchesterboden. An diesem Abend jedoch war das Theater fast ausverkauft gewesen.
     Vor allem auf der Galerie hatte sich gutgelauntes Volk gedrängelt (was möglicherweise nur an Helenas Großzügigkeit mit den
     Freibilletts lag), das keinen Lacher, keinen Ausruf des Erstaunens oder wohligen Entsetzens verschenkte. Der Applaus war grandios
     gewesen.
    In den nächsten Wochen stand auch wieder Monsieur Lessings neue Komödie
Minna von Barnhelm
auf dem Plan, die leider keinerlei königlichen oder göttlichen Glanz bot. Zum Glück hatte sie einen zweiten Titel,
Das Soldatenglück,
was gut für die Kasse war, denn Soldaten versprachen Spektakel. Da Lessings Stück tatsächlich absolut keinen Spektakel bot,
     hatte Jean die Rolle des treuen Werner Titus gegeben und aus dem Rittmeister einen rechten Spaßmeister gemacht. Weil ihm auch
     das noch zu dünn erschien, hatte er ihm einen Gehilfen erfunden, den Filippo zu spielen hatte, was wiederum akrobatischeEinlagen ermöglichte. Kurz und gut, das Publikum würde auf seine Kosten kommen, und falls sich Monsieur Lessing nach Altona
     verirrte – nun, der war beim Umgang mit seinen Stücken sowieso einiges gewohnt.
    Rosina streifte das luftige Gewand einer jugendlichen Göttin aus leichter Seide, Flitter und allerlei Papierblumen ab. Sie
     wischte sich mit weichem Schmalz die helle Schminke von Gesicht, Hals und Dekolleté und bürstete sich den Puder aus dem Haar.
     Dann schlüpfte sie in Rock und Mieder aus grauem Kattun, zog Bluse und Jacke darüber und ging zurück auf die Bühne. Sie liebte
     es, nach der Vorstellung für einige Minuten im Theatersaal allein zu sein. Die Stille nach dem Lärm und dem Pathos des Spiels
     erschien ihr dann noch nicht absolut; wohl waren Parkett und Galerie verlassen, aber so, wie man nach dem Erwachen aus einem
     Traum noch Schemen der Schlafbilder zu sehen meint, deren Tönen und Gefühlen nachspüren kann, waren diese einsamen Minuten
     auf der verlassenen Bühne wie das Lauschen auf ein von ferne nachhallendes Echo. Sie wusste nicht, warum sie diese Minuten
     so liebte. Sie wollte nicht darüber nachdenken, ihr genügten die Ruhe und Geborgenheit, zu denen sie auf diese Weise zurückfand.
    «Saal» war eine schmeichelhafte Bezeichnung. Die Altonaer Theaterscheune verleugnete nicht, was sie einmal gewesen war: eine
     kleine Scheune. Sie war kaum größer als das Komödienhaus im Dragonerstall auf den Hamburger Wällen, in dem sie im letzten
     Sommer gastiert hatten. Diese Bühne war um einige Fuß breiter und tiefer, der etwas höhere Raum erlaubte eine geräumigere
     Galerie – vielleicht doch ein Saal. Eben ein kleiner Saal.
    Sie ging über die Bühne, mied wie stets die fünfte,knarrende Bohle und blieb in der Mitte stehen. Das Wachs der tropfenden Kerze rann heiß über ihre Hand. Sie hätte sie nicht
     gebraucht. Filippo, dem heute auch die Rolle des Lichtputzers zugeteilt war, hatte vergessen, die Kerzen zu löschen. Auch
     der Vorhang war nur halb zur Seite geschoben und noch nicht an den Wänden festgebunden. Dieser konnte nicht wie der im großen
     Theater am Gänsemarkt gehoben und gesenkt werden, sondern lief an Ringen auf einem quer über die Bühne gespannten kräftigen
     Seil. Wenn die

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