Die ungehorsame Tochter
die Buden und die Stapelfrisch gesägter Bretter, auf ein hölzernes Gerippe, aus dem in wenigen Wochen ein neuer Ewer entstehen würde, das Gewusel
der Männer und Jungen, auf einige hoch auf das Ufer gezogene Jollen, die noch seefest gemacht werden mussten. Es roch nach
Holz, Teer und brackigem Wasser.
«Und nun meinst du, sie war diese junge Frau, deren Begleiter ihr die Freibilletts gegeben habt? Und dass sie auch dieses
tote Lotsenmädchen ist?»
«Ich weiß, dass sie es war. Auf der Galerie war es zu dunkel, aber unten an der Seitentür habe ich sie gleich erkannt. Wer
weiß, was sie zu Hause erzählt hat, wo sie den Abend verbringen würde. Im Zweifelsfall beim Pfarrer. Eine Lotsentochter verrät
es gewiss nicht, wenn sie ins Theater geht. Manchmal muss man Eltern Lügen erzählen, weil man sonst erstickt. Ich hätte ihr
helfen müssen, Titus, sie nicht allein in die Dunkelheit hinausgehen lassen dürfen, sondern nach dir oder Filippo rufen müssen,
damit ihr sie begleitet.»
«Warum? Sie hat doch gesagt, sie habe einen Begleiter. Sicher hat der Kerl draußen gewartet. So ein Mädchen geht am Abend
alleine nirgendwohin, nicht mal heimlich ins Komödienhaus.»
«Ja, das ist seltsam.» Rosina beschirmte die Augen mit der Hand und verfolgte den eleganten Flug eines Graureihers über den
Inseln. «Trotzdem. Ich glaube, dass sie diesen Begleiter nur erfunden hat, weil sie nicht wollte, dass ich jemanden rufe.
Oder glaubst du, dass er sie allein in die dunkle Theaterscheune gelassen hätte? Vielleicht schien es ihr sicherer, allein
zu gehen, als mit irgendeinem fremden Komödianten.»
«Wahrscheinlich. Sie ist hier zu Hause, und seltsamerweiseglauben die Menschen unbeirrbar, dass das Böse nur in der Fremde lebt.» Titus schulterte das Bündel und strubbelte sich unwirsch
durch sein struppiges gelbes Haar. «Wenn du recht hast, Rosina, war es womöglich tatsächlich kein Unfall, und wenn vor der
Tür doch jemand auf sie gewartet hat …»
«Genau darüber denke ich gerade nach. Direkt vor der Tür war niemand, den hätte ich sehen müssen. Aber wenn jemand wenige
Schritte weiter oder auf der Elbstraße auf sie wartete …»
Sie sprach den Satz ebenso wenig zu Ende wie Titus. Es war nicht nötig, ihn zu Ende zu sprechen.
Rosina hatte es plötzlich sehr eilig. Sie gingen durchs Pinastor, und Titus hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Er kannte
diesen Ausdruck ihres Gesichts, er gefiel ihm gar nicht.
«Misch dich da nicht ein, Rosina», sagte er, «womöglich kommt sonst jemand auf die Idee, dass es einer von uns war. Du weißt
genau, dass sie nur freundlich sind, solange sie über uns lachen können. Wenn sie einen Sündenbock brauchen, ist es damit
sofort vorbei.» Als sie schwieg, fuhr er fort: «Du bist hier nicht in Hamburg, hier gibt es keinen Weddemeister Wagner, keine
Familie Herrmanns, hinter denen du dich verstecken kannst, wenn es brenzlig wird. Es ist völlig überflüssig, sich da einzumischen.
Wenn der Alte im
Bremer Schlüssel
weiß, mit wem sie eine Liebelei hatte, findet das der Polizeimeister auch heraus, und wenn sie mit ihm auf der Galerie war,
haben sie genug andere mit ihm gesehen. Kümmere dich nicht wieder um Sachen, die dich nichts angehen. Verdammt, Rosina, warum
hörst du mir nicht zu?»
Titus irrte sich. Sie hörte ihm ganz genau zu.
«Doch, Physikus, genau das hat er gesagt: umgehend. Der Bürgermeister erwartet Euren Bericht umgehend. Noch heute. Also müsst
Ihr ihn auch noch heute schreiben.»
Der dünne Mann mit der strengen, etwas zu knappen Perücke vor Dr. Henslers Tür machte ein Gesicht, als habe er dem Physikus sein Todesurteil gebracht. Er sah auch sonst wie ein Leichenbitter
aus, aber das wusste Dr. Hensler, der zum ersten Mal die Ehre hatte, eine Nachricht des Bürgermeisters zu bekommen, nicht. Die Galle, diagnostizierte
er mit einem Anflug von rachsüchtiger Zufriedenheit, und ein Bandwurm.
«Sagt dem ehrenwerten Bürgermeister, ich werde mein Bestes tun, aber jetzt muss ich ins Zucht- und Werkhaus. Wir haben dort
schon den vierten Fall von Blattern, gewiss will er nicht, dass die ganze Stadt daran stirbt, und wird einsehen, dass der
Bericht warten muss. Das Mädchen ist tot, da hat nichts mehr Eile.»
Der Bote machte schmale Lippen und faltete die Hände vor der Brust. «Es hat dennoch Eile. Ich habe Auftrag, Euer Haus erst
zu verlassen, wenn Ihr mir den Bericht überantwortet habt.»
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