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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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beiden Hälften nicht sorgfältig an den Seitenwänden festgezurrt wurden, konnte es geschehen, dass sie langsam,
     aber sicher wieder in die Mitte rutschten. Wie am letzten Montag. Jean deklamierte gerade seine wichtigste Szene – mit jeder
     Zeile hinter weiter geschlossenem Vorhang. Im Publikum wurde schon fleißig gepfiffen und gejohlt, bis er schließlich, die
     Königskrone aus Goldpapier vom Ärger schief auf dem Kopf, selbst den Vorhang zurückzerrte und ordentlich verknotete. Das Publikum
     war von dieser unfreiwilligen Einlage begeistert.
    Rosina blies die erste Kerze an der Rampe aus, als sie das leise Scharren hörte und das Flackern auf der Galerie nahe der
     linken Wand entdeckte. Sie richtete sich auf und hielt ihre Kerze höher. Da oben kroch irgendjemand herum und steckte, wenn
     er nicht sehr gut achtgab, das Theater in Brand.
    «So löscht doch die Kerze!», rief sie, sprang von der Bühne, lief durchs Parkett und die Treppe hinauf auf die Galerie. Schon
     bei ihren ersten Schritten schwand der Lichtschein. Als sie die Galerie erreichte, entdeckte sie in der Dunkelheit nur einen
     Schemen, der sich, als sie mit ihrer Kerze näher trat, als ein Mädchen entpuppte,das zusammengekauert am Boden hockte und ihr erschreckt entgegensah.
    «Was tut Ihr hier? Die Vorstellung ist schon lange aus, Ihr müsst gehen.»
    «Verzeiht, Mademoiselle.» Das Mädchen erhob sich, strich eine der blonden Locken aus ihrer erhitzen Stirn und lächelte verzagt.
     «Ich weiß, dass ich nicht hier sein sollte. Aber ich muss mein Tuch finden. Ich war schon beinahe zu Hause, da habe ich gemerkt,
     dass ich es vergessen habe. Natürlich hätte ich es gleich bemerken müssen, als ich auf die Straße trat, es ist sehr kalt,
     aber ich fühlte mich erhitzt.» Ihre Augen leuchteten, und im Schein der Kerze glühte ihr Gesicht. «Es war so wunderbar. Nie
     zuvor habe ich etwas Schöneres gesehen. Und erst die Musik! Glaubt Ihr, ich könnte auch lernen, so zu singen? Aber verzeiht.
     Ihr müsst müde sein, und ich halte Euch auf.» Plötzlich schien sie sich an den Grund ihres Kommens zu erinnern: «Ich kam zurück,
     um mein Tuch zu holen, ich muss es unbedingt haben. Die große Tür war schon verschlossen, aber die kleine», sie zeigte über
     die Brüstung der Galerie zur rechten Längswand der Scheune, «die kleine dort war noch offen. Ich dachte nicht, dass ich jemanden
     erschrecken könnte. Bitte, ich muss es unbedingt suchen.»
    «Dann wollen wir Euer Tuch schnell finden.» Rosina nahm dem Mädchen einen klebrigen Kerzenrest aus der Hand, entzündete ihn
     an ihrem Licht und gab ihn ihr zurück.
    «Die Kerze», fuhr das Mädchen eifrig fort und hielt den Stummel in die Höhe, «habe ich dort unten von dem Wandhalter genommen.
     Ich hätte sie ganz gewiss wieder zurückgestellt.»
    Rosina nickte. Ihre Augen suchten schon nach dem verlorenen Tuch. Sie glaubte nicht, dass sie es finden würden, auf der Galerie
     blieb selten etwas zurück, das wertvoll genug war, nicht umgehend auf dem Abfallhaufen zu landen. Sicher wärmte das Tuch schon
     die Schultern einer anderen Frau. Aber sie hatten Glück, der Umhang aus dichter dunkler Wolle lag am Ende der Galerie unter
     einer Bank.
    «Habt Ihr niemanden, der Euch begleitet?», fragte Rosina, als sie dem Mädchen folgte, das die Treppe hinunter ins Parkett
     lief. «Es ist spät, Ihr solltet nicht alleine durch die Straßen laufen.»
    «Das macht mir nichts aus. Der Weg ist nicht weit.»
    «Ich kann jemanden rufen, der Euch begleitet.»
    «Sehr freundlich.» Sie schüttelte das Tuch aus, schlang es um ihre Schultern und öffnete die kleine Seitentür. «Es ist nicht
     nötig. Wirklich nicht. Ich bin nicht allein.»
    Mit diesen Worten schlüpfte sie eilig durch die Tür, zog sie hinter sich ins Schloss und verschwand, nun mit fast aufgelöstem
     Haar, in dem schmalen Gang entlang der Wand zur Elbstraße.
    Titus hatte Rosina schweigend zugehört. Für das letzte Stück des Weges über den Hamburger Berg hatten sie die Fahrstraße mit
     ihren Wagen und Fuhrwerken verlassen und waren den schmaleren Weg nahe dem Hochufer entlanggewandert. Das Sägen und Hämmern
     von den Plätzen der Schiffbauer am Ufer erfüllte die Luft, Möwen segelten hoch in den immer mehr aufklarenden Himmel, und
     in den Ställen bei den ersten Altonaer Häusern stritten Schweine, Gänse und Hunde. Titus blieb stehen, ließ das Bündel mit
     den Stoffen ins Gras fallen und sah auf die kleinen Werften hinunter. Auf

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