Die ungehorsame Tochter
der Nacht am Hafen gesehen. Nun galt
keine Ausrede mehr. Wieder einmal zweifelte er, ob es richtig gewesen war, die Stelle des Polizeimeisters anzutreten.
Am Rande der großen Wiese bei den Armenhäusern hockten zwei junge Männer auf einem Stapel frisch geschlagener Buchenstämme.
Mit Brombeerranken durchwuchertes Haselgesträuch verbarg sie halb, der Arzt und der Polizeimeister sahen sie nicht, als sie
an ihnen vorbeieilten. Sie hätten sie auch kaum beachtet, der eine war mit seinen Gedanken schon bei den Kranken im Zuchthaus,
der andere memorierte seinen befohlenen Vortrag für das Rathaus. Trotzdem unterbrachen die Männer hinter den Büschen ihr Gespräch
und duckten sich.
«Ich weiß wirklich nicht, ob du weggegangen bist, Berno», sagte der Kleinere der beiden schließlich, der Blonde in der schwarzen,
oft geflickten Joppe, während seine Augen dem Physikus und dem Polizeimeister folgten und beobachteten, wie der eine an der
Steuer’schen Korbflechterei in den Pötgergang einbog und der andere die lange Königstraße hinunter zum Rathausplatz eilte.
«Glaub ich aber nicht. Du warst bestimmt die ganze Zeit im
Weißen Wal
. Warum hättest du auch gehen sollen? Wohin? Du müsstest dich doch erinnern.»
«Aber das kann ich nicht.» Berno Steuer schlang die Arme um die hochgezogenen Beine, legte das Kinn auf die Knie und starrte
ins Leere. «Ich weiß fast gar nichts mehr von vorgestern Abend. Nur noch, dass wir aus der Theaterscheune und in den
Weißen Wal
an der unteren Elbstraße gegangen sind. Und dass du Wacholderbranntweinbestellt hast. Wir haben getrunken und über die Komödie geredet und über das Eis auf der Elbe, du hast dich eine ganze Weile
mit irgendeinem Dänen über seinen König gestritten, und dann – dann bin ich am Morgen in unserem Schuppen aufgewacht.»
Samuel Luther nickte. «Da hab ich dich hingebracht. Es war verdammt spät, ich dachte, es ist besser, wenn dein Vater dich
nicht sieht. So sternhagelvoll. Der hätte nur Ärger gemacht, wenn wir ihn geweckt hätten.»
Berno habe kaum noch stehen, geschweige denn allein gehen können, berichtete Luther, und er sei froh gewesen, als er ihn endlich
in der Steuer’schen Flechterei auf einen Strohhaufen fallen lassen konnte. Und erleichtert, dass Berno nicht wieder zu lamentieren
begann, wie er es den ganzen Abend getan hatte. Anna dies, Anna das, und der Paulung ist ein Schwein. Er war sofort eingeschlafen,
und Luther war durch die kalte Dunkelheit nach Hause geschlichen. Immer an den Wänden entlang, stets bereit, in einem Eingang
oder Hoftor zu verschwinden, sobald er die Schritte der Wache hörte.
Er grinste und rüttelte seinen Freund aufmunternd an der Schulter. «Denk einfach nicht mehr dran, Berno. Jeder besäuft sich
mal. Ich war auch blau wie ein Veilchen.»
«Aber du weißt noch, was du gemacht hast, Luther, wo du gewesen bist.»
«Ich bin das Zeug eben mehr gewohnt als du. Aber glaub mir, wir waren die ganze Zeit im
Weißen Wal
.»
«Wirklich die ganze Zeit? Zusammen? Ich meine: Du warst immer bei mir, und ich war immer da?»
«Das sage ich doch. Du bist nur mal zum Pinkeln rausgegangen, für ziemlich lange, ich hab schon gedacht, du bist irgendwo
im Hof umgefallen und eingeschlafen.Kann ja vorkommen in so ’ner Nacht. Ich wollte dich gerade suchen, es war kalt, und du warst so besoffen, ist ja schon mancher
im Suff erfroren. Irgendwann warst du wieder da. Was machst du denn für ein Gesicht? Ist Pinkeln etwa auch was Sündiges?»
«Wie lange war ich weg, Luther?»
«Kein Ahnung. ’ne ganze Weile, aber ich hab nicht auf die Glocken gehört. Es war auch zu laut im
Wal
, da konnte man gar nichts hören. ’ne ganze Weile eben. Ich denke, du hast irgendwo im Hof ein bisschen geschlafen.»
«Aber ich muss doch was gesagt haben, als ich wiederkam, irgendwas?»
Luther hob bedauernd die Hände. «Keine Ahnung. Wahrscheinlich hast du wieder was von Anna gebrabbelt, und wahrscheinlich habe
ich zum hundertsten Mal gesagt, du sollst dir das Mädchen aus dem Kopf schlagen. Was willst du mit ’ner Lotsentochter, wo
du nicht mal die Korbflechterei erbst und jede Arbeit annehmen musst, die dir über den Weg läuft? Jedenfalls wenn deine beiden
Brüder nicht bald das Zeitliche segnen oder nach den Kolonien abhauen, was die bestimmt nie tun. Aber warte mal, jetzt fällt
es mir wieder ein.»
Er schob die wollene Mütze auf den Hinterkopf und blinzelte mit gerunzelter Stirn in das
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