Die ungehorsame Tochter
«Wenn Ihr ihn noch nicht geschrieben und abgeliefert hattet, woher weiß der Bürgermeister dann von unserem Verdacht? Ich bin
für heute Nachmittag zum Rapport über den Mord an der Tochter des Lotsenältermanns Hörne bestellt. Genauso hat es der Bote
ausgedrückt. Ich dachte natürlich, er habe das aus Eurem Bericht. Woher sonst kann er es wissen?»
«Das wiederum weiß
ich
nicht. Vielleicht läuft der, der es getan hat, in der Stadt herum und brüstet sich damit.»
Proovt verstand keine Scherze, wenn es um seinen Dienst ging. «So einfach wird er es uns nicht machen. Außerdem», er richtete
seine verzagt hängenden Schultern auf, «noch wissen wir gar nicht, ob es einer war, ein Mord, meine ich. Warum hätte ich Bürgermeister
und Magistrat damit beunruhigen sollen? Ja, das klingt gut. Genauso werde ich es vortragen. Wer sagt uns überhaupt, dass diese
kleinen Verletzungen, die Ihr entdeckt habt, Ergebnisse einer Gewalttat sind? Vielleicht hat sie sich die Kette selbst abgerissen.
Vielleicht war es das Geschenk einesLiebhabers, dem sie gram war. Das wäre doch möglich. Meint Ihr nicht?»
Dr. Hensler grinste. Nicht nur Proovts Erscheinung, auch seine Phantasie taugte eher für einen Dichter als für einen Polizeimeister.
«Oder sie ist in jener Nacht zwei Unholden begegnet. Der erste entriss ihr die Kette, der zweite stieß sie ins Wasser. Möglich
ist alles, wahrscheinlich hingegen erheblich weniger. Jedenfalls glaube ich nicht, dass sie sich die Kette selbst abgerissen
hat. Die Haut war abgeschürft, das zeugt von einem kräftigen Ruck, der ganz gewiss wehgetan hat. Ich würde Euch gerne einen
Mord ersparen, Polizeimeister, obwohl ich stets dachte, dass so etwas Abwechselung in Eure Geschäfte bringt. Mal etwas anderes
als immer nur Diebe, Schmuggler und blutig geschlagene Trunkenbolde. Aber die Verletzung sah ganz danach aus, als habe sie
jemand kräftig gestoßen, dabei die Kette festgehalten, sich vielleicht auch darin verfangen, was weiß ich, und das Gewicht
des Mädchens hat sie im Sturz zerrissen.»
Proovt nickte. «Durchaus plausibel», murmelte er, und plötzlich erhellte sich sein Gesicht. «Wenn es so war, und, wie ich
schon sagte, es scheint durchaus plausibel, dann wird der, nun ja, bleiben wir dabei: der Mörder die Kette eingesteckt haben.
Man muss nur den finden, der sie hat.»
«Kolossal einfach. Wäre ich er, hätte ich sie allerdings weggeworfen, in die Elbe oder in die Teertöpfe einer der Werften.
Eingesteckt hätte ich sie bestimmt nicht.»
«Nein.» Proovt schüttelte energisch den Kopf. Um nichts in der Welt würde er sich den Glauben an dieses schöne Indiz nehmen
lassen. «Nein. Er wird bestimmt versuchen, sie zu verkaufen. Ich werde sofort allen Händlerneine Beschreibung geben lassen, und sobald er es versucht, zack!, haben wir ihn.»
«Wenn der Mordbube arm und hungrig ist, mag er so dumm und gierig sein. Glaubt Ihr wirklich, dass er auch dumm genug ist,
seine Beute in die Werkstatt eines der Goldschmiede oder zu einem Preziosenhändler zu tragen?»
Die Schultern in dem dunklen amtlichen Rock sackten wieder ein wenig tiefer. «Nein, wohl nicht.» Proovt stützte sich auf das
Stehpult, musterte mit gerunzelter Stirn das verklebte Tintenfass und die zerzauste Feder, tupfte mit der Fingerspitze ein
wenig Streusand auf und sagte schließlich: «Trotzdem! Eine Beschreibung zu verteilen kann nicht schaden. Vielleicht ist er
dümmer, als wir denken.»
«Dazu wäre es hilfreich herauszufinden, was für eine Kette sie trug. Ihre Tante wird das wissen, sie wird auch wissen, ob
das Mädchen sie an ihrem letzten Abend wirklich trug. Doch nun müsst Ihr mich entschuldigen, Monsieur. Die Blattern warten
auf mich. Lasst Euch nur Zeit bei der Jagd nach diesem Unmenschen. Ich befürchte nämlich, dass noch zwei Häftlinge erkrankt
sind. Wenn es stimmt, erkläre ich das gesamte Zucht- und Werkhaus zur Quarantänestation. Dann darf nicht nur niemand heraus,
sondern auch niemand mehr hinein, egal was der Bürgermeister sagt.»
Proovt nickte, doch sein Gesicht zeigte, dass er nicht mehr richtig zuhörte. Er hasste es, trauernde, gar verzweifelte Menschen
mit Fragen zu bedrängen. Er hasste überhaupt Trauer und Verzweiflung. Bisher hatte er den Besuch bei der Familie der Toten
hinausgeschoben. Stattdessen war er herumgelaufen und hatte nach Zeugengesucht. Bisher erfolglos, niemand hatte das Mädchen oder auch nur irgendein Mädchen in
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