Die ungehorsame Tochter
den Unterschied. Faustina blieb auf dem Theater und wurde die Gattin
des königlichen Kapellmeisters und Kompositeurs, ein berühmter, verehrter Mann, aber auch von der Oper. Sie sind und bleiben
Domestiken, elegante exotische Tiere, an denen man sich erfreut, um die man buhlt – solange sie bleiben, wo sie hingehören.
Die Liebe meiner Eltern muss sehr groß gewesen sein, dass sie diese Ehe überhaupt wagten.»
Sie schwieg, und ihr Blick glitt zurück zum Fenster, aber sie sah nicht die Straße, nicht die roten Backsteinhäuser, nicht
den Sandsteinschmuck. Sie sah gar nichts, sie fühlte nur einen drängenden Schmerz. Sie hatte ihn schon oft gespürt, immer
wieder in den letzten Jahren. Es war ihr stets gelungen, ihn im Zaum zu halten, ihn wegzuschieben, fortzuscheuchen wie ein
Gefühl der Gefahr, das nur in der Dunkelheit und aus düsteren, unsinnigen Phantasien wuchs. Aber nun ließ er sich nicht mehr
vertreiben. Es war nicht der Schmerz um das, was gewesen, um das, was sie getan, sondern um das, was sie nicht getan hatte.
Sie bereute nicht, gegangen zu sein. Aber was sie damals als trotziges Kind, verletzt, empört und im Gefühl tiefer Demütigung,
nicht begreifen konnte, was sie in all den Jahren immer wieder fortgeschoben hatte, holte sie nun ein. Sie hatte ihn zurückgelassen,
allein mit seinem Verlust, und ihm einen weiteren zugefügt. Er hatte sie nicht gefunden, also hatte er sie auch nicht gesucht.
Das war für sie immer unverrückbar gewesen und die Legitimation, ihn niemals wissenzulassen, dass sie lebte und dass es ihr
gutging. Irgendwann begriff sie, dass die Ungewissheit über das Schicksal seiner Tochter ihm eineQual sein musste, selbst wenn er sie verachtete und nicht mehr als seine Tochter anerkennen konnte. Aber da, so hatte sie
gedacht, war es schon zu spät. Sie war eine Wanderkomödiantin geworden, hatte sich auf die Seite dieses Volkes geschlagen,
gegen das eine Sängerin an der Hofoper eine Königin war. Sollte sie ihn das wissenlassen? Wie? Mit welchen Worten? Er würde
es nie begreifen. Und wenn sie sich auch immer wieder versichert hatte, er wolle deshalb nichts von ihr wissen, er habe sich
längst von ihr losgesagt und sie vergessen, so wie sie sich endgültig von ihrer Vergangenheit und Herkunft getrennt hatte,
lauerte doch ein nagendes Gefühl der Schuld. Inzwischen hatte sie längst gelernt, dass die Sache mit der Schuld nicht so einfach
ist, wie sie es als Fünfzehnjährige geglaubt hatte. Nun holte sie das alles ein. Nun sollte sie zurückkehren und alles noch
einmal erleben?
«Rosina?» Anne legte leicht ihre Hand auf Rosinas Schulter und holte sie zurück in die Sicherheit ihres Salons. «Woher kam
deine Mutter?», fragte sie leise. «War ihre Familie auch auf dem Theater?»
«Nein. Ihr Vater war Advokat und ein frommer Mann. Er hat seine Tochter verstoßen, als sie zur Oper ging. Sie hat es mir natürlich
nie erzählt, ich habe es in der Küche gehört, als niemand wusste, dass ich unter dem Tisch hockte. Ich habe einfach nur nicht
so lange gewartet, bis ich auch verstoßen wurde. Ich bin vorher gegangen. Es war eine gute Entscheidung, trotz allem. Warum
sollte ich nun umkehren?»
«Weil er alt und nicht sehr gesund ist.» Anne trat neben Rosina und sah mit ihr hinunter auf die Straße. «Ist es nicht sehr
hart, ihm diesen Wunsch abzuschlagen?»
«Vielleicht. Ich habe immer gedacht, er verabscheue mich. Ich weiß nicht, was ich nun denken soll, Anne. Ich treffe jede Stunde
eine neue Entscheidung. Manchmal ertappe ich mich bei der Überlegung, ob es nicht das Klügste wäre, einfach wieder bei Nacht
aus dem Fenster zu steigen.»
«Dazu hast du keinen Grund, und zum Glück bist du klug genug zu wissen, dass es nicht wirklich nützen würde. Warum lässt du
dir nicht einfach ein bisschen Zeit, bevor du dich entscheidest?»
«Das möchte ich, aber Klemens drängt, so bald als möglich zu reisen. Als er aufbrach, war mein Vater sehr geschwächt. Es ist
nicht sicher, ob er sich erholt.»
«So schlimm? Dann musst du tatsächlich schnell reisen. Du würdest dir nie verzeihen, wenn du zu spät kämst.»
«Du meinst, wenn ich ihn in der Gewissheit meiner Unversöhnlichkeit sterben ließe?»
«Du bist sehr streng, Rosina, ich fürchte, letztlich mehr mit dir selbst als mit ihm.» Anne nahm ihre Hand und fuhr fort:
«Doch ja, das habe ich gemeint. Eine Reise zurück ist immer eine schwere Reise, selbst wenn sie ein
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