Die ungehorsame Tochter
verteidigen.
«Ich hatte nie daran gezweifelt, dass du meinen Wünschen nicht zuwiderhandelst, Karola. Dass du es tust, betrübt mich tief.
Sehr tief.» Alexander Lenthe stand in der Tür zur Diele, den Reisemantel noch über dem Arm, sein Gesicht glich dem einer marmornen
Darstellung des Ares. «Ich habe dir diesen Unterricht nicht aus Herrschsucht verboten, meine Liebe, sondern weil er für meine
Tochter, für uns alle schädlich ist.»
«O nein, Papa.» Emma, die endlich begriff, warum die Stunden im Musikzimmer zur kostbaren Seltenheit geworden waren, die auch
nun erst erkannte, dass diese Stunden stets mit der Abwesenheit des Hausherrn zusammenfielen, trat neben ihre Mutter. «Es
ist gewiss nicht schädlich. Es ist ja kein Unterricht, sondern nur ein Zeitvertreib. Ich habe so sehr darum gebeten, Ihr dürft
Mama nicht …»
Seine erhobene Hand ließ sie gehorsam verstummen. «In einem hast du recht, Emma: Dies ist kein Unterricht, sondern die Übung
leichtfertiger Tändelei. In meinem Haus ein äußerst unpassender Zeitvertreib. Du bist zu jung, um das beurteilen zu können.
Deine Mutter hingegen weiß das sehr wohl.»
Dann schickte er sie hinaus und schloss die Tür. Sosehr sie sich bemühte, verstand sie kein Wort von dem, was an diesem Nachmittag
im Musikzimmer gesprochen wurde. Beim Abendessen fehlte ihre Mutter. Madame sei nicht wohl, entschuldigte sie ihre Zofe, wenn
es erlaubt sei, werde sie ihr eine Bouillon und ein wenig weißes Brot bringen. Später, ihr Vater saß in seiner Bibliothek
über den Aufzeichnungen seiner Reise, schlich Emma in den privaten Salon ihrer Mutter. Obwohl es ihr niemals verboten worden
war – ausgesprochene Verbote waren im Haus Lenthe selten –, hatte sie das Gefühl, etwas Unerwünschtes zu tun.
Karola Lenthe saß am Fenster und blickte in die heraufziehende Nacht. Sie wandte sich ihrer Tochter zu, bemühte sich um ein
Lächeln und um einen heiteren Ton. Diese Lieder, erfuhr Emma nun, seien in der Tat leichtfertig, vielleicht unterhaltsam für
ein Kind, ganz gewiss nicht für eine junge Dame. Wenn sie ein wenig älter sei, werde sie das selbst einsehen. Auch ihr Bruder
werde schon bald viel mehr Freude an den Pferden und seinen Büchern haben als an Klavichord und Flöte, die wahrhaft keine
männliche Beschäftigung böten. Es sei nicht gut für einen Knaben wie Botho, wenn er die Musik der Jagd und der Vorbereitung
für sein Studium vorziehe. Gewiss, er sei noch ein Kind, aber das könne nicht früh genug beginnen.
Emma spürte, dass sie log. Sie verstand nicht, warum. Noch weniger verstand sie, warum ihre Mutter sich diesen unvernünftigen
Befehlen ihres sonst so liebenswürdigen Gatten nicht zumindest ein wenig widersetzte.
Seit diesem Tag blieb das Musikzimmer verschlossen.
«Die Fähre ist gleich da!» Klemens kam, die Pferde am Zügel, den Weg zum Anleger herab, und aus Emma wurde wieder Rosina.
Sie sah sich nach der Dame mit dem Maiglöckchenduft um, doch die war nirgends zu sehen. Sicher hatte sie wieder ihren Platz
in der Kutsche eingenommen, die nun zum Anleger hinunterrollte. Am Ufer wurden die Pferde ausgespannt und das kostbare, schwarzpolierte
Gefährt von den Fährleuten und dem Kutscher mit Ächzen und Geschrei über breite Planken auf die Fähre geschoben. Erst beim
zweiten Versuch trafen die Räder in die für sie vorgesehenen hölzernen Rinnen auf dem Boden des Bootes. Alle hatten die Kutsche
verlassen, ein teuer gekleideter, nicht mehr ganz junger Herr, eine rotnasige, unerlässlich in geflüstertem Jammer die Hände
ringende Zofe, ein noch kindlicher Page und zwei Lakaien. Welchen Grund mochte es haben, ausgerechnet die junge Dame bei diesem
gefährlichen Manöver hinter den geschlossenen Vorhängen verborgen zu halten?
Schließlich waren Kutsche und Fuhrwerk sicher vertäut, auch die Pferde und Menschen an Bord, und die Fähre legte ab. Wegen
der Strömung gelang es den Männern an den Staken und Riemen nur in einem weiten Bogen, das andere Ufer zu erreichen. Als Rosina,
endlich wieder auf festem Grund, im Sattel saß, drehte sie sich noch einmal um. Danach, das hatte sie sich fest vorgenommen,
wollte sie nur noch nach vorne sehen.
KAPITEL 10
SONNTAG, DEN 19. MARTIUS,
NACHMITTAGS
Claes Herrmanns warf Dreispitz und Reisemantel auf die Truhe in der Diele und lauschte. Das Haus war viel zu still. Nur aus
der Küche hörte er Gemurmel und das Klappern von Topfdeckeln. Nun
Weitere Kostenlose Bücher