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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Ryder gewesen. Wir haben also die Gelegenheit verpaßt, ihm vorgestellt zu werden! Wissen Sie, zu dem Zeitpunkt waren sie so weit weg, sie waren schon beim Tor, und die Chauffeure hielten schon die Autotüren auf. Selbst wenn wir versucht hätten hinzulaufen, wären wir nicht rechtzeitig gekommen. Also haben wir, ganz strenggenommen, Mr. Ryder nicht kennengelernt. Aber Trude und ich haben das gerade besprochen, und wir haben uns gesagt, daß es in fast jeder anderen Hinsicht, ich meine, in jeder wirklich wichtigen Hinsicht, nur recht und billig wäre zu sagen, daß wir ihn heute kennengelernt haben. Wenn er schließlich bei der offiziellen Gesellschaft gewesen wäre, dann hätte Herr von Braun uns ganz sicher bei dem Giraffenkäfig, kurz nach dem Fortgehen von Miss Collins, vorgestellt. Es ist wohl kaum unsere Schuld, daß uns nicht bewußt war, wie taktvoll sich Mr. Ryder verhalten würde und daß er beim Tor warten würde. Na jedenfalls, der springende Punkt ist der: Es steht außer Frage, daß es ganz und gar angemessen gewesen wäre, wenn man uns ihm vorgestellt hätte. Das ist doch der springende Punkt. Herr von Braun jedenfalls hat offensichtlich geglaubt, daß es bei der Stellung, die wir augenblicklich einnehmen, ganz eindeutig angemessen gewesen wäre. Und weißt du was, Trude« – sie wandte sich an ihre Freundin – »jetzt, wo ich die Sache weiter durchdenke, stimme ich dir zu. Wir können auf der Versammlung heute abend genausogut berichten, daß wir ihn tatsächlich kennengelernt haben. Wie du schon sagst, das ist der Wahrheit näher, als wenn wir das Gegenteil behaupten würden. Und wir müssen heute abend so viel besprechen, wir haben einfach nicht die Zeit, alles noch einmal von vorn zu erklären. Schließlich ist es nur eine Laune des Schicksals gewesen, die uns darum gebracht hat, ihm ganz formell vorgestellt zu werden, das ist alles. Im Grunde haben wir ihn getroffen. Ganz bestimmt wird man ihm alles über uns erzählen, wenn das nicht schon geschehen ist, er wird doch sicher eingehende Erkundigungen darüber einziehen, wie seine Eltern betreut werden sollen. Wir haben ihn also so gut wie getroffen, und wie du schon sagst, wäre es nicht richtig, wenn die Leute etwas anderes denken würden. Ach herrje, entschuldigen Sie bitte« – Inge wandte sich plötzlich an Fiona -, »ich habe ja ganz vergessen, daß ich mit einer alten Freundin von Mr. Ryder spreche. Für Sie muß das ja so aussehen, als würden wir eine Riesenaufregung um nichts machen, für Sie als alte Freundin ...«
    »Aber Inge«, sagte Trude, »die arme Fiona ist sehr verwirrt. Du darfst sie nicht auch noch hänseln.« Dann lächelte sie Fiona an und sagte: »Ist schon gut, meine Liebe; machen Sie sich keine Sorgen.«
    Während Trude das sagte, stellten sich bei mir Erinnerungen an die warmherzige Freundschaft ein, die Fiona und ich als Kinder füreinander empfunden hatten. Ich sah das kleine weiße Häuschen wieder vor mir, in dem sie gewohnt hatte, nur ein paar Schritte diese schmutzige Straße in Worcestershire hinunter, und dort hatten wir beide stundenlang unter dem Eßzimmertisch ihrer Eltern gespielt. Ich dachte an die Zeit, in der ich aufgeregt und verwirrt zu ihrem Haus gegangen war, und daran, wie geschickt sie mich getröstet und mir ermöglicht hatte, ganz schnell die Szene zu vergessen, die ich gerade hinter mir gelassen hatte. Die Erkenntnis, daß diese wertvolle Freundschaft hier vor meinen Augen ins Lächerliche gezogen wurde, ließ heftige Wut in mir aufsteigen, und obwohl Inge schon wieder das Wort ergriffen hatte, kam ich zu dem Schluß, ich könne das alles keine Sekunde länger so weitergehen lassen, ohne einzugreifen. Fest entschlossen, meinen früheren Fehler nicht zu wiederholen und keine Ausflüchte mehr machen zu wollen, lehnte ich mich entschieden vor, ich wollte Inge das Wort abschneiden, indem ich fest und mutig meine Identität preisgab, und mich dann zurücklehnen, während sich die Auswirkung des Gesagten über den Raum senkte. Doch obwohl ich viel Kraft auf mein Eingreifen verwandte, kam leider nichts weiter als ein leicht ersticktes Grunzen heraus, das aber trotzdem laut genug war, Inges Redestrom zu unterbrechen und alle drei Frauen dazu zu bringen, sich umzudrehen und mich anzustarren. Es kam zu einem peinlichen Moment, bevor Fiona, zweifellos in dem Wunsch, mir über meine Verlegenheit hinwegzuhelfen – vielleicht war etwas von ihrem alten Beschützerinstinkt mir gegenüber kurzfristig

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