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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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einen leicht verwirrten Eindruck. Dann versuchte er, seinen früheren Ärger wieder anzufachen, und sagte: »Sehen Sie sich diese Seiten an, Mr. Ryder! Sehen Sie sich das an!« Doch die Glut war inzwischen erstorben, und er schaute mich ein wenig einfältig an. »Dann lassen Sie uns gehen«, sagte er mit matter Stimme, als hätte er eben eine entsetzliche Niederlage erlitten. »Lassen Sie uns gehen.«
    Doch einen Moment lang rührte er sich überhaupt nicht, und es kam mir so vor, als gingen ihm einige Erinnerungen an weit zurückliegende Ereignisse durch den Kopf. Dann ging er voller Entschlossenheit auf seine Frau zu, und ich folgte ein paar Schritte hinter ihm.
    Mrs. Hoffman drehte sich um, als wir näher kamen. Ich ging nicht ganz bis zu ihr hin, doch sie schaute an ihrem Mann vorbei und sagte zu mir:
    »Wie schön, Sie wiederzusehen, Mr. Ryder. Leider scheint sich der Abend nicht ganz so zu entwickeln, wie wir gehofft hatten.«
    »Bedauerlicherweise«, erwiderte ich, »haben Sie wohl recht.« Dann machte ich einen Schritt nach vorn und fügte hinzu: »Und nachdem eines zum anderen gekommen war, Mrs. Hoffman, scheine ich auch noch eine ganze Reihe von Dingen vernachlässigt zu haben, auf die ich mich schon sehr gefreut hatte.«
    Ich rechnete damit, daß sie auf diese Andeutung reagieren würde, doch sie schaute mich einfach nur interessiert an und wartete darauf, daß ich fortfuhr. Dann räusperte sich Hoffman und sagte:
    »Meine Liebe. Ich... ich wußte von deinem Wunsch.«
    Er lächelte sanft und hielt die Mappen hoch, in jeder Hand eine.
    Mrs. Hoffman starrte ihn entsetzt an. »Gib mir diese Mappen«, sagte sie streng. »Dazu hattest du nicht das Recht. Gib sie mir her.«
    »Meine Liebe…« Hoffman kicherte einmal kurz, und sein Blick fiel auf seine Füße.
    Mrs. Hoffman hatte immer noch die Hand ausgestreckt, in ihrem Gesichtsausdruck lag rasende Wut. Der Hoteldirektor reichte ihr erst die eine und dann die andere Mappe. Seine Frau warf schnell einen Blick auf beide, um sich davon zu überzeugen, daß es die richtigen waren, und dann schien sie von einem Gefühl der Verlegenheit überwältigt zu werden.
    »Meine Liebe«, murmelte Hoffman, »ich habe ja bloß gedacht, es würde nicht schaden...« Wieder verlor sich seine Stimme, und er lachte.
    Eisig starrte Mrs. Hoffman ihn an. Dann drehte sie sich zu mir um und sagte: »Es tut mir sehr leid, Mr. Ryder, daß mein Mann es für nötig befunden hat, Sie mit derartig banalen Dingen zu belästigen. Guten Abend.«
    Sie klemmte sich die Mappen unter den Arm und ging weg. Aber sie war gerade erst ein paar Schritte weit gekommen, als Hoffman plötzlich rief:
    »Banal? Nein, nein! Diese Mappen sind doch nicht banal! Und auch nicht die Mappe über Kosminsky. Genausowenig wie die Mappe über Stefan Hallier. Die sind nicht banal. Wenn sie es nur wären. Wenn ich nur glauben könnte, daß sie es wären!«
    Seine Frau blieb stehen, drehte sich aber nicht um, und Hoffman und ich starrten sie an, während sie ganz still im gedämpften Licht des Korridors stand. Dann machte Hoffman ein paar Schritte auf sie zu.
    »Der Abend. Es ist eine einzige Katastrophe. Weshalb sollten wir so tun, als wäre es nicht so? Weshalb erträgst du mich überhaupt noch? Jahr um Jahr, Fehler um Fehler. Nach dem Jugendfestival war deine Geduld mit mir sicherlich am Ende. Aber nein, du hast es trotzdem bei mir ausgehalten. Dann die Ausstellungswoche. Immer noch hast du es bei mir ausgehalten. Wieder hast du mir noch eine Chance gegeben. Na schön, ich habe dich angebettelt, ich weiß. Dich um noch eine weitere Chance angefleht. Und du hast es nicht übers Herz gebracht, mich abzuweisen. Kurz und gut, du hast mir den heutigen Abend geschenkt. Und was habe ich vorzuweisen? Der Abend ist eine einzige Katastrophe. Unser Sohn, unser einziger Sohn hat sich vor den angesehensten Bürgern dieser Stadt lächerlich gemacht. Das ist meine Schuld gewesen, ja, das weiß ich. Ich habe ihn ermutigt. Ich weiß, selbst noch im allerletzten Moment hätte ich ihn aufhalten sollen, aber ich hatte nicht die Kraft. Ich habe ihn seinen Weg bis ganz zum Ende gehen lassen. Glaube mir, meine Liebe, das ist nie meine Absicht gewesen. Von Anfang an habe ich mir vorgenommen, morgen sage ich es ihm, morgen werden wir einmal richtig darüber reden, wenn wir erst etwas mehr Zeit haben. Morgen, morgen, ich habe es immer weiter hinausgeschoben. Ja, ich war schwach, das gebe ich zu. Sogar heute abend noch habe ich mir vorgenommen,

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