Die unglaublichen Abenteuer des Barnaby Brocket (German Edition)
ich für dich tun?«
»Ich wollte nur fragen …«, begann er. Er musste sich seine Frage gut überlegen. »Was würde passieren, wenn ich nicht operiert werde?«
»Na ja – du musst dich operieren lassen«, sagte sie, als gäbe es daran nicht den geringsten Zweifel. »Deine Eltern haben die Formulare bereits unterschrieben, und ich fürchte, bei einem achtjährigen Jungen haben die Eltern das letzte Wort.«
»Ja, aber theoretisch – wenn sie die Formulare nicht unterschrieben hätten, meine ich. Wenn sie die Operation nicht haben wollten.«
»Aber sie wollen sie.«
»Aber wenn sie dagegen wären.«
Dr. Washington überlegte eine Weile. »Es würde nichts passieren«, sagte sie dann mit einem Achselzucken. »Du würdest so bleiben, wie du jetzt bist. Du würdest weiter schweben. Du könntest nicht mit den Füßen auf dem Boden bleiben.«
»Und so würde es immer bleiben?«
»Ich denke, ja«, sagte Dr. Washington. »Aber du musst dir keine Sorgen machen, Barnaby. Das wird nicht passieren. Wir bringen dich in Ordnung. Morgen um diese Zeit bist du schon ein ganz neuer Junge. Dein ganzes Leben wird anders aussehen, und du bist dann wie alle anderen auch. Ist das nicht wunderbar?«
Barnaby lächelte und sagte, ja, bestimmt, dann rollte er zurück in sein Zimmer, zurück zu seinen eigenen Gedanken, zurück zu Captain W. E. Johns.
Es war schon spät. Kurz vor halb sechs. Die Operation war für sechs Uhr angesetzt. Barnaby wusste, dass der Pfleger jede Minute kommen konnte, um ihn abzuholen. Man würde ihn auf eine Trage schnallen und den Flur entlangschieben, dann würde man ihn mit dem Aufzug in den untersten Teil des Gebäudes bringen und ihm eine Narkose geben. Und wenn er wieder aufwachte, war er jemand anderes. Klar, er war dann immer noch Barnaby Brocket, nur eben ein ganz anderer Barnaby Brocket als der, der in den letzten acht Jahren existiert hatte.
Er schaute durch das Oberlicht hinauf in den blassblauen Abendhimmel, zu den vorbeisegelnden Wolkenfetzen, zu den Vögeln, die dahin flogen, wohin Vögel eben fliegen, und er tätschelte Captain W. E. Johns, der zu einer Kugel zusammengerollt in seinem Schoß lag. Und Barnaby dachte an all das, was ihm passiert war seit dem Tag, an dem Eleanor ein Loch in seinen Rucksack geschnitten hatte und der Sand herausgerieselt war.
Er war mit einem Heißluftballon geflogen. Er hatte zwei tolle alte Damen kennengelernt, die nie zurückgeschaut hatten, nachdem sie von ihren Familien hinausgeworfen worden waren, weil sie anders waren. Er war auf einer Kaffeefarm in Brasilien gewesen und hatte sich an ein Mädchen namens Palmira geschmiegt. In New York war ihm der Rucksack gestohlen worden, und dann hatte er einem jungen Künstler zum ganz großen Erfolg verholfen. Er war mit dem Zug nach Toronto gefahren, hatte ein Footballspiel gesehen, war zu einem Turm hinaufgeschwebt, wo er von einem fürchterlichen Mann gerettet und dann gefangen genommen worden war – aber durch ihn hatte er auch viele ungewöhnliche und extrem nette Menschen kennengelernt, die nettesten und ungewöhnlichsten in seinem ganzen Leben. Er war seinem Freund Liam McGonagall wiederbegegnet. Er war Bungee gesprungen – oder hatte es jedenfalls versucht –, und er hatte einen Fallschirmsprung gewagt – oder es jedenfalls versucht –, und er hatte einen Mann kennengelernt, der bereit war, zu seinen Kindern zurückzugehen, obwohl diese bestimmen wollten, wie er lebte.
Er war sogar im Weltall gewesen.
Oder jedenfalls im Weltraum.
Und nun war er wieder hier. In Sydney. In der normalen Welt.
Und ihm kam der Gedanke, dass normal zu sein vielleicht gar nicht so erstrebenswert war, wie alle sagten. Wie viele normale Jungen hatten so tolle Abenteuer erlebt wie er oder so tolle Leute kennengelernt? Wie viele Jungen hatten so viel von der Welt gesehen wie er und so vielen Menschen unterwegs geholfen?
Und wer konnte überhaupt sagen, dass er derjenige war, der nicht normal war? War es normal, ein Loch in einen Rucksack zu schneiden und einen achtjährigen Jungen einfach davonfliegen zu lassen, in unbekannte Fernen? War es normal, immer nur so – na ja – so normal sein zu wollen?
Er hörte, wie sich im Flur die Aufzugstür öffnete und eine Trage herausgeschoben wurde. Die ist bestimmt für mich, dachte er. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Wenn ich abwarte, bis sie mich holen, dann machen sie, dass ich so bin wie sie.
Und in dem Moment begriff er, dass es ihm gefiel , anders zu sein.
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