Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval - Roman
sicherzugehen, war aber bald im Zweifel und wäre fast umgekehrt und hätte einen Schein wieder mitgenommen, auch um sicherzugehen, zu viel und zu wenig, das ist nämlich auf seine Art beides schlecht, sollte ich das nicht besser wissen als irgendwer sonst? Aber es war so oder so zu spät, der Kellner schaufelte bereits das Vermögen in die Tasche seiner Schürze, und jetzt hatte ich kaum noch Taschengeld für den eigenen Gebrauch, wie gesagt, Trinkgeld, das ist meine Schwäche. In unserer Welt gibt es so etwas nicht. Da ist ein Betrag ein Betrag, wie auch ein Meter nicht länger als exakt ein Meter sein kann. Ich ging, leider ging ich nicht direkt aufs Zimmer und liebte Sigrid in Grund und Boden, sondern die Promenade des Anglais entlang, auf die Klippen im Süden zu, der Sonne entgegen, die ihrerseits mir entgegenkam und mir bald in den Rücken fallen würde. Hier gab es keine Eile. Und blau ist das Wort, das ich wieder benutzen möchte. Vom Strand bis zum Horizont, der auf wundersame Weise vom Himmel abgelöst wurde, in einer in meinen Augen ebenfalls blauen, unsichtbaren Naht, war alles blau, und dennoch nicht zu verfehlen. So viel Blau hatte ich noch nie gesehen, auch später nie wieder. Keine Farbe ist mehr als Blau. Ich kann bis mindestens neunzehn in Blau zählen. Wurde ich nachlässig? Nein, es war nur ein plötzliches Gefühl von Freiheit, das Besitz von mir ergriff. Hier, unter Unbekannten, ein Inkognito, ein Spion, verkleidet und nicht wiederzuerkennen, unter zufälligen Touristen, Fischern, Verkäufern, Handelsleuten, Kindern, Nonnen und last but not least unter fremden Sprachen, in anderen Alphabeten und Sprichwörtern, konnte ich endlich ausatmen, und ich rief, während meine Arme ruderten: Satans kleine Fotzenolive im Wichtelsalat! Es dauerte nicht lange, nur einen kurzen Augenblick erklang der Ruf. Es war vorbei, bevor es verklungen war. Das ist unsere Kunst. Wir sind schnell bei der Hand. Ich kam zur Ruhe. Doch sogleich hörte ich einen Tumult direkt im Hintergrund, ein Stöhnen, einen Aufschrei, der fast Norwegisch klang, und alles in mir erstarrte. Jetzt durfte ich mich nicht umdrehen. Jetzt musste ich schneller werden, nicht laufen, einfach nur schneller gehen, langsam, aber sicher, die Promenade überqueren und ein Versteck in der Altstadt finden. Ich drehte mich um. Ich konnte es doch nicht lassen. Denn wenn ich mich nicht umgedreht hätte, ich hätte den Rest meines Lebens daran denken müssen, und das wäre nicht zu ertragen gewesen. Ich war gefangen und umringt von Zeit und Ort. Ich drehte mich um. Ein älteres Paar, wahrscheinlich ein Ehepaar, jedenfalls hatten sie sich gegenseitig untergehakt, war stehen geblieben und starrte mich an. Die Dame trug ein dunkles, hässliches Kostüm und einen ebenso dunklen, hässlichen Hut, den sie tief in die Stirn gezogen hatte, und sie wirkte mürrisch und empört, mit ihr war sicher nicht gut Kirschen essen. Der Mann andererseits, er hatte einen Stock in seiner freien Hand, er war mit einem eleganten hellgrauen Anzug bekleidet, das Gesicht war glatt, fast mager, was ein braver Schnauzbart noch hervorhob. Es war ein schöner Mann. Aber ich zweifelte daran, dass er angenehm im Umgang war. Er wirkte schlimmer. Doch das Schlimmste war, dass er etwas Bekanntes an sich hatte. Ich hatte ihn schon einmal gesehen, und ich war nicht in der Lage zu sagen, wo, war es bei der Hochzeit, im Rikshospital, in der Universität? Oder hatte ich ihn nur in der Zeitung gesehen? Jetzt hob er entschlossen seinen Stock, zeigte mit ihm wie mit einer Waffe auf mich und sagte in dröhnendem Norwegisch:
»Du widerlicher Hundsfott!«
Dann spuckte er auf den Boden aus, und jetzt waren sie an der Reihe, sie drehten sich um und gingen in die andere Richtung, fort von mir, so weit fort von mir wie möglich. Auch ich spuckte auf den Boden und flüchtete schnell in die Altstadt, auf den Markt, der gerade schließen wollte, und ich begriff ein für alle Mal, dass es keinen Ort, nicht einen einzigen Ort auf der Welt gibt, an dem wir uns verstecken können. Es gibt immer jemanden, der dich sieht. Es gibt immer einen Zeugen in der Nähe. Notto Fipp hatte das schon lange begriffen und präsentierte sich offen und schämte sich nicht, ganz im Gegenteil. Aber seine Nummer war größer als mein gesamtes Repertoire. Notto Fipp rief Jubel hervor. Ich rief Abscheu hervor. Ich hob einen Pfirsich aus dem Rinnstein, drückte ihn, so fest ich konnte, in meiner Hand, und das verdorbene Fruchtfleisch
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